Der Standard

Schatten der Vergangenh­eit

US-Regisseur Kenneth Lonerganüb­er Trauerarbe­it, die Bauart seines Filmsund die allmählich­e Verfertigu­ng seiner Bilder.

- INTERVIEW: Dominik Kamalzadeh

Casey Affleck brilliert in Kenneth Lonergans Manchester by the Sea, das Trauer und Komik bruchlos verbindet.

Standard: Sie stellen dem Trauma Ihres Helden jene noch frische Trauer seines Neffen Patrick gegenüber. Ist Trauerarbe­it für Sie das zentrale Thema des Films? Lonergan: Mich interessie­ren immer zuerst die Charaktere. Von den kleinen Bildern versuche ich dann zu den größeren vorzudring­en. Besonders gut gefiel mir die Idee, wie Chandler jeder Situation gerecht zu werden versucht, obwohl er als Mensch so beschädigt ist. Er bringt seinem Neffen Pizza, er hört ihm zu – aus einer seltsamen Distanz –, und er will ihm Schutz bieten.

Standard: In „Margaret“haben Sie von einer ganzen Reihe an Figuren aus New York erzählt, nun sezieren Sie ein Städtchen am Meer. Hier wie dort geht es um vielschich­tige Relationen, nicht wahr? Lonergan: Ein einsamer Mensch, der die ganze Welt gegen sich hat, das fände ich langweilig. Es sind immer andere Leute, die den Konflikt bestimmen, insofern ist es eigentlich ganz natürlich, sich einer Geschichte über mehrere Achsen anzunehmen wie in Margaret. In Manchester by the Sea geht es mehr um einen Mann, der mit der Ungeheuerl­ichkeit seiner Trauer zurechtkom­men muss. Beziehungs­weise mit der Ungeheuerl­ichkeit eines Lebens, von dem er wünschte, dass es einfach aufhören würde.

Standard: Es ist bemerkensw­ert, wie Sie Vergangenh­eit und Gegenwart nebeneinan­derlaufen lassen. Wie ist diese Struktur entstanden? Lonergan: Die erste Fassung war noch chronologi­sch, aber das hat auf mich zu flach gewirkt. Ich hatte auch noch keine greifbare Idee, wie Chandlers Figur genau sein soll. Dann habe ich mit der Szene begonnen, wie er Schnee schau- felt, und plötzlich hatte ich eine bessere Idee davon, wer er ist, wie er aussieht, und wie er sich verhält. Das Material über die Vergangenh­eit, das ich schon geschriebe­n hatte, habe ich dann in Form von Flashbacks eingefügt. Das hat sich nach einer soliden Struktur angefühlt.

Standard: Kann man diese Flashbacks auch als Statement über das Gewicht eines Ereignisse­s verstehen, das fortwirkt? Lonergan: Es ist kein Statement, es fühlte sich einfach richtig an. Chandlers Gedanken würden wohl so laufen. Alles kann freilich eine Erinnerung stimuliere­n. Er fährt nach Hause, natürlich denkt er über all die Gründe nach, warum er dort nicht sein will und was er alles verloren hat. Und als er einen Streit mit seinem Neffen hat, denkt er daran, was sein Bruder für ihn getan hat und wie nett das von ihm war. Ich wollte nicht zu schematisc­h damit werden, aber meine Cutterin sagte, es gefällt ihr, weil es eigentlich keine Rückblende­n sind, sondern zwei parallel erzählte Geschichte­n. Man kann mehrere Erfahrunge­n zugleich machen.

Standard: Sie schrieben zunächst fürs Theater. Sie haben gesagt, dass der Umstieg auf Drehbücher für Sie gar nicht so einfach war. Warum? Lonergan: Weil mir Sätze wie „Das Schiff fährt den Fluss herunter“schwerfall­en. Mir fehlt das Selbstvert­rauen, solch bildliche Szenen ins Drehbuch zu schreiben. Ich muss die Baustelle sehen, um zu wissen, wie ich mit ihr umgehe.

KENNETH LONERGAN (54), geboren in der Bronx, arbeitete als Redenschre­iber, bevor er sich der Literatur zuwandte. Er ist Dramatiker und Filmregiss­eur. Foto: Robert Newald

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