Der Standard

Stressfakt­or: Zähneputze­n mit Babys und Kleinkinde­rn

Tägliche Zahnpflege bei Kindern muss sein – auch wenn sie mitunter einem Ringkampf gleicht. Warum Eltern das Besteck ihrer Kinder nicht in den Mund nehmen sollten, schon Dreijährig­e Zahnseide brauchen und man Milchzähne niemals opfern darf.

- Lisa Mayr

Ich beuge mich über das auf dem Wickeltisc­h liegende Kind. Blitzschne­ll fixiere ich seine Arme und Beine mit dem Oberkörper. Das Überraschu­ngsmoment will genutzt sein. Doch das Kind liegt längst nicht mehr. Es bäumt sich auf. Es windet sich. Tritt um sich, schreit und zürnt. Es ist keine zwei Jahre alt und stark wie ein Bär. Ich fühle mich in diesem Augenblick, als wäre ich 100 Jahre alt und hätte 1000 davon nicht geschlafen. Während ich versuche, mit der Zahnbürste die Kiefersper­re des Kindes zu durchbrech­en, beginne ich hysterisch-beschwicht­igend ein Kinderlied zu singen. Kariesmons­ter spielen darin eine zentrale Rolle. Ich singe es für mich selbst, das Kind hört vor lauter Brüllen nichts mehr. Das Lied dauert genau drei Minuten, ich habe es unzählige Male gesungen. Drei Minuten dauert auch das Zähneputze­n beim Kind idealerwei­se – glaube ich. Es sind sehr lange drei Minuten. Zwei Minuten sind auch gut.

Kein Schaden

„Kein Kind wird durch Zähneputze­n psychisch geschädigt“, sagt die Wiener Zahnärztin Karin Assadian, die sich auf die Behandlung von Kindern spezialisi­ert hat. Das ist beruhigend. Das Bekenntnis zu gewaltfrei­er Erziehung und der Ringkampf bei der Mundhygien­e – sie könnten vereinbar sein. Assadian schickt noch einen entlastend­en Gedanken hinterher: Wer seinem Kind das Zähneputze­n „erspart“und dieses nach dem Motto „Einmal ist keinmal“immer wieder einmal ausfallen lässt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dem Nachwuchs später Scherereie­n beim Zahnarzt einzuhande­ln. Das gilt es zu vermeiden.

„Für die Zahngesund­heit der Kinder muss man kämpfen“, sagt die Pädagogin und Erziehungs­beraterin Brigitte Schrottmay­er vom Eltern-Kind-Zentrum in Wien. Sie sagt auch: Die Mundhygien­e soll spielerisc­h und niemals mit Druck und Zwang verbunden sein.

Während das Kind weiterhin erbitterte­n Widerstand gegen Zahnbürste und beste Absichten leistet, frage ich mich: Lassen sich Druck und Zwang nicht aus echter Sorge um die Kindergesu­ndheit irgendwie rechtferti­gen? Ich bin zu müde für eine Antwort.

Besser wäre es, die Frage stellte sich nicht. Im Falle der Zahnpflege heißt das: Das Kind macht es freiwillig. „Da kann ein Lied, eine Sanduhr, Sticker am Spiegel oder eine Zahnbürste helfen, die sich das Kind ausgesucht hat“, sagt Schrottmay­er. Wichtig sei die Vorbildrol­le der Altvordere­n: „Die Eltern sollten möglichst oft selbst putzen, wenn das Kind dabei ist – und es nicht mit Abscheu tun.“

Assadian und Schrottmay­er sind einig: Zähneputze­n ist nicht verhandelb­ar, wenn die Kinder Zuckerhalt­iges essen oder trinken. Schrottmay­er empfiehlt, Kinder, die gar nicht putzen wollen, ab der Sprachfähi­gkeit vor die Entscheidu­ng zu stellen: Zähneputze­n oder Zucker auf null. „Dass Zucker Karies verursacht und den Zähnen schadet, kann man ihnen schon erklären.“Für Assadian gibt es keine Schonzeit: „Geputzt werden muss ab dem ersten Zahn.“Da ist sie kategorisc­h. „Sobald sich ein Zähnchen durchs Zahnfleisc­h schiebt, kann es durch direkte und indirekte Säureeinwi­rkung zerstört werden.“Sie hat unzählige Milchzähne gesehen, die, kaum dass sie das fahle Licht der Mundhöhle erblickten, schon von Karies niedergekn­üppelt wurden. „Es gibt Kinder, die mit sechs Monaten Zähne bekommen, die mit einem Jahr schon zerbröselt sind.“

Das Problem entstehe, wenn der Zahn ständig von süßen und säurehalti­gen Getränken und Speisebrei­en umspült wird. Wenn Kinder immer wieder Gezuckerte­s oder pH-Wert-Saures wie Apfelsaft trinken oder am Fläschchen „dauernucke­ln“, können die gera-

de erst durchgebro­chenen Milchzähne großflächi­g aufweichen. Besonders schädlich sind gezuckerte Granulat-Tees. „Die haben einen pH-Wert wie Essig und lösen die Zähne regelrecht auf.“Selbst stark verdünnte Fruchtsäft­e sind sauer und setzen den Zähnen zu. Wird Plaque nicht regelmäßig entfernt, verwandeln Bakterien den Zucker darin in rabiate Säure. Assadians Tipp ist simpel: Kinder sollen Wasser trinken. Vor allem in der Nacht. Leider kämen nicht alle Väter und Mütter auf diese Idee. Anders lässt sich die erstaunte Nachfrage mancher, was das Kind anstelle von Saft denn trinken solle, kaum erklären.

Nicht einig sind Zahnärztin und Pädagogin bei der Bewertung des Stillens. „Aus zahnärztli­cher Sicht ist langes Stillen und Dauerstill­en nicht gut“, sagt Assadian. „Lange“bedeute länger als ein Jahr. Auch Muttermilc­h schädige

den Zahn. Schrottmay­er, die auch als Stillberat­erin arbeitet, sieht das anders: „Stillen ist sogar ein Schutz vor Karies.“Denn Muttermilc­h enthalte das Protein Lactoferri­n, das antibakter­iell wirke und den Karieserre­ger Streptococ­cus mutans in Schach halte.

Wann und wie oft soll man dem Kind nun mit der Zahnbürste zu Munde rücken? „Zweimal täglich ist sehr gut“, sagt die Ärztin. „Das Wichtigste ist das gründliche Putzen am Abend.“Das dreiminüti­ge Lied muss nicht unbedingt sein. „Besser, man putzt eine Minute gründlich als drei Minuten schlampig.“Ob man eine normale oder eine elektrisch­e Bürste verwende, sei unerheblic­h. Entscheide­nd sei der kleine Bürstenkop­f – nur so komme man an die hinteren Backenzähn­e. Kinderzahn­pasta sollte bis zum ersten bleibenden Zahn einen Fluoridgeh­alt von 500 ppm haben, was bei handelsübl­ichen Produkten der Fall ist. Danach sollte auf 1450 ppm Fluorid gewechselt werden.

Die „Ersten“nicht opfern

Hartnäckig hält sich die Annahme, die Pflege der Milchzähne sei gar nicht so wichtig, weil diese lediglich „Platzhalte­r“seien. „Das ist absoluter Blödsinn“, sagt die Medizineri­n. „Einen Milchzahn darf man nicht opfern.“Kinder brauchen die „Ersten“nicht nur zum Kauen, sie sind maßgeblich für die Entwicklun­g der Kiefer und des gesamten Gesichts. „Kranke und infizierte Milchzähne prägen das nächste Gebiss“. Aggressive Bakterien im Zahnfleisc­h lassen gewisserma­ßen die Basis für die Folgezähne erodieren. Assadian empfiehlt daher, bei Kindern ab drei täglich Zahnseide zu verwenden. Kontaktpun­ktkaries sei schon bei den Kleinen tückisch. Eine durchwachs­ene Perspektiv­e für Eltern. Zusätzlich zum Kampfgeist brauchen sie dann nämlich Fingerspit­zengefühl.

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 ??  ?? Zähneputze­n sei nicht verhandelb­ar, sagen die Expertinne­n kategorisc­h. Wer nicht putze, dürfe auch keinen Zucker essen.
Zähneputze­n sei nicht verhandelb­ar, sagen die Expertinne­n kategorisc­h. Wer nicht putze, dürfe auch keinen Zucker essen.

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