Die fragile Ordnung der Dinge
Zwiespalt der Gefühle beim Besuch in Wijk aan Zee. Von ruf & ehn
„Es sind“, heißt es in einer alten Wiener Redensart, „auch schon Hausherren gestorben.“In der Prophezeiung kommt das Grantige, das Neidige und das Schiache, das man den Bewohnern der Stadt so gerne nachsagt, zum Vorschein. Dem Hausherrn, den man hasst und der man vielleicht selbst gern wäre (aber nicht ist), wünscht man den Tod. Zum Vorschein kommt aber auch ein subversives Element, das sich gegen Autoritäten aller Art wendet: gegen die großen Tiere, gegen die Politik, gegen die Hausherren eben, die, auch wenn sie jetzt noch jeden Monat fröhlich den Zins kassieren, auch einmal dem großen Gleichmacher begegnen werden. Wenn der Hausherr dann allerdings einmal vorbeigeht, beugt der Redner den Kopf: „G’schamster Diener“, heißt es dann mit kammerdienerhafter Höflichkeit. Jean Améry nannte das vor vielen Jahren einmal den „fermentierenden Charme“, der alle Differenzen zukleistert und als Lebensgefühl die Stadt beherrscht.
Die Ambivalenzen beschränken sich freilich nicht auf Wien. Die Besucher des jährlich im Jänner ausgetragenen Weltklasseturniers im holländischen Wijk aan Zee konnten die Widersprüchlichkeit der Gefühle an sich selbst beobachten. Am Start war Magnus Carlsen, der im Herbst seine Weltmeisterschaft in New York erfolgreich verteidigt hatte. Als Weltmeister verkörpert er die Ordnung der Dinge, wenn er gewinnt, ist in gewissem Sinn alles in Ordnung, verliert er, wird allen die Fragilität dieser Ordnung deutlich. Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgten die Kiebitze die Partien des Schachhausherren deshalb in den ersten Runden. Siege gegen den jungen Chinesen Wei Yi und den polnischen Großmeister Radosław Wojtaszek ließen zunächst die Achseln zucken, aber dann in der siebenten und achten Runde Kaskaden der Angstlust: Carlsen vergibt auf erstaunliche Weise den Sieg gegen Anish Giri und verliert eine Runde später sogar gegen den ungarischen Außenseiter Richárd Rapport. Sehen Sie selbst:
Carlsen – Giri Wijk aan Zee 2017 In der 7. Runde hatte Carlsen seinen Gegner Anish Giri nach hervorragendem Spiel völlig an die Wand gespielt und schritt nun zur Verwertung seines Vorteils, der in der Jagd auf den schutzlosen König besteht.
Die einzige praktische Chance. Giri forciert den e-Bauern. Nach 49… Th6 50.Tg5 Ke6 51.Tb5 hätte er den e- und auch den h-Bauern verloren.
Schwarz holt sich eine neue Dame. Und Weiß? Setzt einfach den matt! König
Ein geradezu unglaublicher Fehler! Carlsen hatte noch mehr als 40 Minuten auf der Uhr und verfehlt die einfache Mattführung 56.Tc8+ Kg7 57.Tf7+ Kh6 58.Th8 matt. Selbst nach 56... Te8 57. TxTe8+ DxTe8 58.LxDe8 verbleibt Weiß mit einem Plus von Turm und zwei Bauern!
Zwar ist die Stellung noch immer gewonnen für Weiß, aber die Aufgabe ist ungleich schwieriger, weil Schwarz kräftiges Gegenspiel hat.
Damit wirft Carlsen den Gewinn endgültig weg. Einzig 59.Lc4, mit der Idee, den schwarzen König vom Königsflügel zu vertreiben und dann langsam den h-Bauern vorzuziehen, gewann. Weiß muss nun einen Turm zurückgeben, und das verbleibende Material reicht nicht mehr zum Gewinn, da Weiß auch noch den falschen Läufer hat (Einzugsfeld h8).
Carlsen versuchte noch 60 Züge lang das Unmögliche, jedoch remis.
Rapport – Carlsen Wijk aan Zee 2017
Der ungarische Kreativspieler setzt dem Weltmeister Nimzowitschs Flankeneröffnung vor. Carlsen wählt eine zentrale Aufstellung, die schon Lasker anno 1924 in New York zum Erfolg gegen Réti führte.
Bisher alles nach klassischen Vorbildern.
13… Lxb4? 14.Lxf6. Denn scheitert an
Eine schwierige Stellung für Carlsen, der unbedingt gewinnen will, aber keinerlei Vorteile hat.
Öffnet das Zentrum für weitere Vereinfachungen.
Überaus ehrgeizig. Zu optimistisch. Carlsen hofft auf 23.exd3?! Dxd3, jedoch:
Sperrt den Lh7 vom Spiel aus. Carlsen geht konsequent den falschen Weg weiter. Noch immer konnte er mit 23... g5! Gift in die Stellung streuen. Fällt nicht auf 24.f4? Sf3+! 25.Sxf3 Le4 herein.
Ein Figurenopfer, das jedoch in eine Sackgasse führt. 26… De6 mit zäher Verteidigung war angesagt. Die hübsche Pointe.
Aus dieser eisernen Umklammerung gibt es keine Befreiung mehr.
Schwarz muss die Dame zurückgeben und verbleibt mit einer Figur weniger, deshalb 1–0