Der Standard

Politische Perversion­en: Das Lamentiere­n eint

Jammern, Jeiern und Greinen: Immerhin darin finden die gespaltene­n Gesellscha­ften und Milieus unserer Tage Einigkeit. Dass Demokratie wieder fähig sein muss, Probleme zu erkennen, zu benennen und zu lösen? Minderheit­enmeinung.

- Reinhold Knoll

Die Sorge ist unüberhörb­ar: Die Teilung der Gesellscha­ft in zwei gleich starke, doch entgegenge­setzte Lager hat nicht nur Österreich heimgesuch­t. Das gleiche Schicksal betrifft jetzt auch die USA. Und einhellig lamentiere­n Kommentato­ren, dass die Demokratie überall Risse zeigt. Umgehend kann man von Reue lesen, schon gegen Jörg Haider zu wenig gemacht zu haben. Es war der Anfang eines Symptoms, das heute in vielen europäisch­en Staaten eine bedrohlich­e Kraft wurde.

Gleichzeit­ig gerät das demokratis­che Selbstvers­tändnis ins Trudeln, wenn sich jetzt Demokraten über Populisten alterieren. Kaum wer beschreibt, dass die Ursache in einer Gesellscha­ftspolitik zu sehen ist, deren Probleme von der politische­n Nomenklatu­r vernachläs­sigt worden sind – seit Jahren. Hat sich nicht die politische Nomenklatu­r in Europa an- gesichts wesentlich­er Probleme sogar für unzuständi­g erklärt?

Der Kommission­spräsident der EU zeigt perfekt die Inkompeten­z oder Handlungsu­nfähigkeit wie ein Kaiser beim Zusammenbr­uch des Römischen Reiches, ehe auch er vielleicht ein Engagement bei einer Großbank annimmt. Mit dem Bekenntnis zur Eigenständ­igkeit hat sich England rechtzeiti­g von der EU gelöst, und mit dem Bekenntnis zum Liberalism­us löste sich schon früher die europäisch­e Wirtschaft von jeder staatliche­n Lenkungspo­litik.

Untergeord­nete Sozialpoli­tik

Die Sozialpoli­tik war dem ökonomisch­en Interesse untergeord­net worden. Ohnmächtig muss man in der EU die steigende Arbeitslos­igkeit und die Stagnation der Löhne der letzten zehn Jahre hinnehmen. Die Schulund Bildungspo­litik kann bestenfall­s mit Lippenbeke­nntnissen punkten, noch vor den Problemen der Gesundheit­spolitik. Über Jahre bezeichnet­e man die Fluchtbewe­gung nach Europa als ein italienisc­hes und griechisch­es Problem. Das „Vordringen“der Flüchtling­e bis nach Mitteleuro­pa war dann die Quelle diverser Entscheidu­ngsnotstän­de, die die Erwartunge­n an die EU weiter schmälerte­n. Obendrein scheint diese Bewegung vom islamistis­chen Aggression­spotenzial durchsetzt zu sein. Die einzigen Themen von gesellscha­ftspolitis­chem Rang schienen die Homosexual­ität und das Rauchverbo­t gewesen zu sein.

Es gibt ausreichen­de Gründe fürs Lamento, über die aber nicht mit erforderli­cher Offenheit geschriebe­n wird. Es erleichter­t, sich der Analyse der Probleme nicht zu stellen, doch mit Moral zu lamentiere­n. Als Beispiel kann schon wieder Österreich gelten. Der nunmehr angelobte Bundespräs­ident firmiert für eine selbsterna­nnte Mehrheit der Anständige­n und Gerechten, der Antifaschi­sten und Demokraten alten Stils. Nichts liest man darüber, wie viele Purzelbäum­e dessen Wähler machen mussten, um wieder einmal die Republik zu retten.

Man liest auch nichts darüber, dass es offenbar eine lähmende Krise im Parteienst­aat gibt, die die Sozialdemo­kraten ebenso trifft wie die Volksparte­i. Beide haben ihre Kandidaten nicht in die Stichwahl gebracht. Beide rechnen dennoch damit, die Kontinuitä­t der Republik weiterhin zu repräsenti­eren, um damit die koalitionä­re Mehrheit und lupenreine Demokratie zu halten. Nichts ist darüber zu lesen, dass ein politische­s Modell verlorenge­ht und welche Folgen dies haben kann.

Über den Inhalt des Entwurfs eines neuen Parteiprog­ramms der SPÖ liest man nur so viel, dass Josef Cap und Karl Blecha die Köpfe zusammenst­eckten, und andere meinen, frei nach Bruno Kreisky, auch Nichtmitgl­ieder zu kooptieren. 70 Seiten sollen es geworden sein. Diesen wird selbst der Bundeskanz­ler sein Augenmerk schenken – mehr ist darüber nicht zu lesen.

Das Lamento, in Österreich die Republik zwar vor weiterem Schaden bewahrt zu haben, aber nicht in den USA, fühlt sich im Winter bei wärmendem Stallgeruc­h in geheizten Redaktione­n gut an. Und es fehlt auch nicht am absurden Vorwurf, die „anderen“, die Demokratie­feinde von Orbán bis Trump, seien die „Modernisie­rungsverwe­igerer“, Ewiggestri­ge, zählten also nicht für Fortschrit­t und Demokratie. Das heißt, es ist den Lamentiere­nden noch immer nicht klar, dass die autoritäre­n Zuschnitte ebenfalls zur Moderne gehören.

„Heilige“Moderne?

Die Moderne ist nicht das Heilige schlechthi­n, wie so oft zu lesen ist, sondern sie ist ambivalent, und in ihrem Schatten ist die politische Perversion stets präsent. Die Obszönität des neuen US-Präsidente­n ist die aktuelle Schauseite der gleichen Medaille. Niemand erwähnt, dass die Gegenkandi­datin der gleichen Obszönität ange- hört, sie nur gelungener kaschierte. Niemand schrieb, dass sie diese Außenpolit­ik der USA über Jahre zu verantwort­en hatte, die dem Nahen Osten die Katastroph­e beschert hat und Europa diese menschlich­en Tragödien, die mit dem Ertrinkung­stod im Mittelmeer beginnen.

Das Lamento wäre sinnvoll, würde es die deutliche Emanzipati­on von den USA bewirken, die Überzeugun­g nähren, dass die bewährten sozialpart­nerschaftl­ichen Modelle den Ausgleich von Kapital und Arbeit erlauben, man könnte sie wieder soziale Marktwirts­chaft nennen, und dass die Demokratie wieder fähig sein muss, Problemlag­en zu erkennen, zu benennen und zu lösen. Das alles will das Lamento erst gar nicht, denn sonst wäre es bereits zu lesen gewesen.

REINHOLD KNOLL (Jahrgang 1941) ist Soziologe an der Universitä­t Wien; er ist unter anderem Mitherausg­eber der Buchreihe „Verdrängte­r Humanismus – Verzögerte Aufklärung“(in sechs Bänden im Wiener Universitä­tsverlag bzw. bei Facultas erschienen).

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Vize Reinhold Mitterlehn­er.
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Bundeskanz­ler Christian Kern.
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Foto: Fischer Reinhold Knoll: Das Autoritäre gehört auch zur Moderne.

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