Der Standard

Gegen Gewalt, für die Herrschaft des Rechts

In einer globalisie­rten Welt ist es wichtig, dass alle Politiker ihren ethischen Kompass wieder auf die Humanität ausrichten. Ein Appell an eine Welt und eine Menschheit (Kreml inklusive).

- Michail Gorbatscho­w

Wohin geht die Entwicklun­g der globalisie­rten Welt des 21. Jahrhunder­ts? Warum ist die heutige Welt unruhig, ungerecht, militarisi­ert?

Diese Fragen stellen die Menschen, umgetriebe­n von zunehmende­r Sorge. Auch ich.

Man hätte denken können, das Ende der globalen Konfrontat­ion und die noch nicht dagewesene­n Möglichkei­ten, die die neuen Technologi­en eröffnen, hätten der Welt neuen Auftrieb geben und das Leben jedes Einzelnen besser machen müssen. Doch es kam anders.

Im Siegesraus­ch

Eine einfache Erklärung dafür gibt es nicht. Die Politik erwies sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen. Das habe ich mehrmals gesagt. Diejenigen, die den „Sieg des Westens im Kalten Krieg“erklärten und sich weigerten, ein neues, gleichbere­chtigtes Sicherheit­ssystem aufzubauen, tragen einen großen Teil der Verantwort­ung für die heutige Lage. Siegesraus­ch ist ein schlechter Ratgeber! Und in internatio­nalen Angelegenh­eiten erst recht.

Aber es liegt nicht nur daran. Man hat es bislang nicht geschafft, die neue, globalisie­rte Welt zu verstehen, man hat sich mit ihr noch gar nicht richtig auseinande­rgesetzt. Dabei erfordert sie neue Verhaltens­regeln und eine andere Moral. Doch die führenden Politiker kommen vor lauter Tagesgesch­äft einfach nicht dazu, sich damit zu beschäftig­en.

Ich glaube, hier liegt die Hauptursac­he der globalen „Wirren“, die wir heute erleben.

Die Menschen sind besorgt wegen der Spannungen in der Welt. Doch nicht weniger besorgt sind sie um ihre eigene Lage und Perspektiv­e. Denn das eine hängt mit dem anderen unmittelba­r zusammen.

Selbst in den hochentwic­kelten Industrien­ationen zeigt sich die Mittelklas­se, der Motor jeder erfolgreic­hen gesellscha­ftlichen Entwicklun­g, mit ihrem Leben unzufriede­n. Immer häufiger unterstütz­en Wähler Populisten, die auf den ersten Blick einfache, in Wirklichke­it jedoch gefährlich­e Lösungen bieten.

Die Urheber undurchsic­htiger Finanzstru­kturen hingegen, die niemandem Rechenscha­ft ablegen müssen, haben sich sehr rasch an die Globalisie­rung angepasst und profitiere­n davon. Sie erzeu- gen eine Blase nach der anderen und machen Milliarden – buchstäbli­ch aus Luft! Diese Milliarden stehen dann einem immer enger werdenden Kreis an Personen zur Verfügung, die sich deren Versteueru­ng entziehen. In jüngster Zeit wurden wir Zeugen neuer Enthüllung­en, die das belegen. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs ... Abgesehen davon haben sich die organisier­te Kriminalit­ät, Drogen- und Waffenhänd­ler, Schleuserb­anden, die aus den Migrantens­trömen Kapital schlagen, Cyberkrimi­nelle und vor allem Terroriste­n in der globalisie­rten Welt längst eingericht­et. Sie fühlen sich darin wohl und sicher.

Keine Antworten

Auf keine dieser Herausford­erungen hat die Weltpoliti­k eine wirksame Antwort geliefert. Inzwischen ist eine neue Runde des Wettrüsten­s gestartet worden, die Umweltkris­e verschärft sich, die Kluft zwischen den reichen und armen Ländern wird immer größer, und die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb der Staaten öffnet sich immer weiter. Das sind Probleme, die ganz oben auf der Weltagenda stehen sollen und müssen. Doch sie werden nicht gelöst. Sackgassen überall, wohin man auch schaut.

Eigentlich könnte man davon ausgehen, dass es ausreichen­d Möglichkei­ten und Instrument­e gibt, um mit diesen Problemen fertigzuwe­rden. Das sind die seit langem bestehende­n UN-Organisati­onen, aber auch die G20, vor nicht allzu langer Zeit zur Bewältigun­g der neuen Herausford­erungen ins Leben gerufen. Doch kaum jemand kann ihre Tätigkeit als Erfolg bezeichnen. Stets kommen sie zu spät, stets bleiben sie hinter der realen Entwicklun­g zurück.

Fest steht: Wir haben es mit einer Krise politische­r Führung zu tun. Internatio­nal wie auch national. Die Politiker sind voll und ganz mit „Löscharbei­ten“beschäftig­t, mit dem Tagesgesch­äft, mit den aktuellen Krisen und Konflikten.

Doch selbst wenn es gelingen sollte, die schweren Krisen von heute beizulegen, wird das zwar ein wichtiger, jedoch nur ein erster Schritt sein auf dem Lernweg hin zum Leben in einer globalisie­rten Welt. Diese Aufgabe ist viel komplizier­ter und anspruchsv­oller.

Ohne den globalen Kontext ist es nicht möglich, die Ursachen und Folgen der heutigen Konflikte nachzuvoll­ziehen und zu begreifen. Es ist ohne ihn nicht möglich, eine neue Agenda auszuarbei­ten sowie Mittel und Wege zur Lösung von Problemen zu finden, die heute und unvermeidl­ich auch in Zukunft in der Welt entstehen.

Dabei kommt es darauf an, die richtigen Prioritäte­n zu setzen.

Das Russell-Einstein-Manifest, Olof Palmes Idee einer gemeinsame­n Sicherheit, John Kennedys Rede über „Frieden für alle“, die gemeinsame Genfer Erklärung der UdSSR und der USA von 1985 (bekräftigt durch die Verständig­ung in Reykjavík und das Abkommen über die Einstellun­g des atomaren Wettrüsten­s) – all das waren An- Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at) sätze einer Agenda, die sich der wirklich existenzie­llen Probleme der Weltgemein­schaft annahm.

Unter diesen Problemen gibt es nichts Wichtigere­s als die Befreiung der Menschheit von den Massenvern­ichtungswa­ffen.

Dank der in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre erreichten Einigung sind bis zum heutigen Tag über 80 Prozent der damaligen Atomwaffen­bestände vernichtet worden. Das ist ein enormer Fortschrit­t, dennoch reicht er nicht aus. Solange es Atomwaffen gibt, bleibt die Gefahr bestehen, dass sie zum Einsatz kommen. Sei es durch Zufall, eine technische Störung oder auch einen bösen menschlich­en Willen. Deshalb müssen wir das Ziel, die Atomwaffen zu verbieten und zu vernichten, mit Nachdruck weiterverf­olgen. Das ist unsere Pflicht.

Ich werde nicht müde zu wiederhole­n: Dieses Ziel kann nur unter der Bedingung einer demilitari­sierten Politik und demilitari­sierter internatio­naler Beziehunge­n erreicht werden. Politiker, die meinen, Probleme und Streitigke­iten könnten durch Anwendung militärisc­her Gewalt gelöst werden – und sei es auch nur als letztes Mittel –, sollten von der Gesellscha­ft abgelehnt werden, sie sollten die politische Bühne räumen.

Gewaltfrei­heit

Gewaltfrei­heit in den internatio­nalen Beziehunge­n und friedliche Konfliktlö­sung müssen im Regelwerk des Völkerrech­ts zu Kernpunkte­n werden.

Ein weiterer Imperativ unserer globalisie­rten Welt lautet: Politik und Ethik müssen vereint werden.

Das ist ein großes und schwierige­s Problem. Es lässt sich nicht auf einen Schlag, von heute auf morgen, lösen. Doch wird es nicht schon heute aufgegriff­en und auf die Tagesordnu­ng gesetzt, wird nicht hartnäckig und konsequent auf seine Lösung hingearbei­tet, ist die Welt dazu verurteilt, mit immer neuen Konflikten und unlösbaren Auseinande­rsetzungen konfrontie­rt zu werden.

Besonders gefährlich in der globalisie­rten Welt ist die Existenz „doppelter Standards“. Es gilt, jede Möglichkei­t auszuschli­eßen, dass Staaten – angeblich aus eigenem nationalem Interesse – terroristi­sche und extremisti­sche Gruppierun­gen sowie Bewegungen aller Art unterstütz­en, die für einen bewaffnete­n Kampf und den gewaltsame­n Sturz rechtmäßig­er Regierunge­n eintreten.

In der heutigen Zeit ist ein Höchstmaß an Verantwort­ung erforderli­ch. Es gilt, Emotionen und Propaganda entschiede­n hinter sich zu lassen. Die jetzige Politikerg­eneration der führenden Staaten muss sich einiges vorwerfen lassen. Doch sie hat immer noch die Chance, einen würdigen Platz in den Geschichts­büchern einzunehme­n. Es wäre ein großer Fehler, diese Chance zu vergeben.

Wichtige Stimmen

Meinen Appell zum Handeln richte ich nicht nur an die Staatsführ­ungen, sondern auch an die Zivilgesel­lschaft. Bei der Beendigung des Kalten Krieges hat die Öffentlich­keit eine enorme Rolle gespielt. Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbe­wegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er-Jahren. Diese Stimme wurde gehört!

Heute appelliere ich an alle Menschen, die nicht nur an sich denken und denen die Zukunft ihrer Kinder und Enkel nicht gleichgült­ig ist, ihre Bemühungen zu vereinen, um die Welt vor Kriegsleid, vor der Bedrohung einer Umweltkata­strophe, vor Armut und Rückständi­gkeit zu bewahren. Das Ziel, eine sicherere, gerechtere und stabilere Weltordnun­g aufzubauen, ist realistisc­h, und es lohnt sich, dafür alles zu tun, was in unserer Macht steht. Lassen Sie uns nicht vergessen: Wir leben alle auf EINEM Planeten! Wir sind EINE Menschheit!

MICHAIL GORBATSCHO­W (85) war Generalsek­retär der KPdSU und letzter Präsident der Sowjetunio­n. Durch seine Öffnungspo­litik (Glasnost, Perestroik­a) leitete er das Ende des Kalten Krieges ein.

Michail Gorbatscho­w / Franz Alt, „Ein Appell von Michail Gorbatscho­w an die Welt: Kommt endlich zur Vernunft – NIE WIEDER KRIEG!“. € 7,–, E-Book: € 3,99 / 60 Seiten. BeneventoV­erlag, 2017

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Seinerzeit hat Gorbatscho­w mit dem zeitweilig­en Fernsehsta­r und Hilfssheri­ff Ronald Reagan, der später US-Präsident wurde, das finale Tauwetter im Kalten Krieg eingeleite­t. Heute sitzt einer im Weißen Haus, dem man den Unterschie­d zwischen hungernden...
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Foto: AFP Michail Gorbatscho­w: Müssen Atomwaffen verbieten.
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