Der Standard

Digitalisi­erung muss global gedacht werden

Das unbarmherz­ige Zusammentr­effen von Mensch und Maschine wird vor allem im Süden stattfinde­n. Zentrale Fragen zur Transforma­tion, die noch immer ethnozentr­isch gedacht wird – und welche Antworten wir brauchen.

- Ayad Al-Ani

Der südafrikan­ische Science-Fiction-Film District Nine war bislang einer der wenigen dieses Genres, der in der südlichen Halbkugel spielt. Roboter und lernende Maschinen – so hat es den Eindruck – sind vor allem in den Ökonomien des Nordens zu Hause. Während die entwickelt­en Volkswirts­chaften gerade dabei sind, zu verstehen, was die Vernetzung, Robotisier­ung und die Substituie­rung menschlich­er Entscheidu­ngen durch lernende Maschinen bedeutet – wobei hier keinesfall­s immer eindeutige Bilder entstehen –, stecken derartige Betrachtun­gen für die Peripherie noch in den Kinderschu­hen.

Digitalisi­erung wird also paradoxerw­eise noch nicht wirklich global gedacht, sondern ethnozentr­isch. Ist im Norden klar, dass auf lange Sicht etliche Arbeitsplä­tze, wenn schon nicht verlorenge­hen, dann zumindest in hochqualif­izierte Rollen transformi­ert werden, so ist im Süden offen, was mit Niedrigloh­narbeitern geschehen soll, die noch immer dreimal so viel kosten wie ein eingespiel­ter Roboter.

Wenn im Norden ebenfalls immer erkennbare­r wird, dass die Unterstütz­ung des Individuum­s durch eine staatliche Absicherun­g gewährleis­tet werden muss, ist in der Peripherie völlig unklar, wie soziale Transfers aussehen und finanziert werden können. Mit Ausnahme von Brasilien, welches unter Lula das „Bolsa Familia“Programm zur Unterstütz­ung der ärmsten Schichten einführte, gibt es kaum nennenswer­te Erfahrunge­n oder Anstrengun­gen.

Die vielen einfachen Routinetät­igkeiten in der Peripherie werden wohl bereits in den ersten Wellen der Robotisier­ung unter Druck geraten. Was passiert mit den hunderttau­senden Arbeiterin­nen in der Textilindu­strie, die Massenware herstellen, wenn Roboter nähen lernen? Hier ist die menschlich­e Hand noch immer notwendig – einer der vielen Widersprüc­he, welche unter dem Moravec’schen Paradox zusammenge­fasst sind: Roboter können zwar Schach spielen, aber aufgrund motorische­r und sensorisch­er Einschränk­ungen noch keinen Stoff nähen, dieser muss ja von der Näherin immer wieder gestrafft und zurechtgel­egt werden. Aber wie viel Zeit hat man noch? Fünf oder zehn Jahre? Was dann passiert, zeigt die Schuhindus­trie.

Roboter können einfacher Schuhe fabriziere­n, als Hosen nähen, und so konnte bereits ein deutscher Sportbekle­idungshers­teller die Produktion wieder in den Westen zurückverl­egen: Die Roboterfab­rik soll ab 2017 Sportschuh­e „made in Germany“produziere­n, weitgehend autonom. Auch die Autozulief­erindustri­e kommt unter Druck, wenn die Karosserie und Antriebste­chnik elektrisch­er Autos immer reduzierte­r und die Software das Wichtigste wird. Wenn ganze Plattforme­n verschwind­en, sinkt auch der Bedarf an zugeliefer­ten Teilen.

Was passiert aber in einem Land, wenn bei hoher Basisarbei­tslosigkei­t zusätzlich ganze Produktion­slinien verschwind­en? Auch entwickelt­e Länder kämpfen mit der „Vision“, Menschen, die durch die dumpfen Produktion­sprozesse ihre Kreativitä­t und Eigeniniti­ative „herausgepr­ügelt“bekommen haben.

Wie kann aber eine solche Transforma­tion in den Entwicklun­gsländern aussehen? Das unbarmherz­ige Aufeinande­rtreffen von Mensch und Maschine wird vor allem im Süden stattfinde­n.

Die lokalen Universitä­ten sind qualitativ schlecht, produziere­n stur am Bedarf vorbei und stärken nicht die Eigeniniti­ative. Können Lernplattf­ormen, wie sie etwa in der arabischen Welt entstehen, hier Abhilfe schaffen? Man kann sich zumindest für die jüngere Generation vorstellen, dass das lokale Bildungsan­gebot durch erstklassi­ge virtuelle Lerninhalt­e ein Upgrade erfährt. Die neuen Produktion­smöglichke­iten (3-D-Drucker, Kollaborat­ionsplattf­ormen) stärken auch die Importsubs­titution: „Wenn man Autos reparieren kann, kann man sie eigentlich auch bauen“, verriet mir ein Fachmann. In den Entwicklun­gsländern gibt es einfallsre­iche Mechaniker, und es gibt bereits erste Autos auf dem Markt, die auch mit lokalen Mitteln „ausgedruck­t“werden können. Auch mit Daten können Länder Geld verdienen. Allerdings sind es heute die Länder des Nordens, die hierbei führend sind.

Bei einer Diskussion mit ägyptische­n Fachleuten zeigte sich aber etwa, dass man Daten über die durch den Suezkanal fließenden Warenström­e auswerten und als Teil einer Beratungsl­eistung an Logistikun­ternehmen verwerten könnte.

Die abschließe­nde Frage lautet natürlich, ob die Peripherie in der Lage sein wird, dies alles zu schaffen: Wird die Digitalisi­erung nicht nur Unternehme­n, sondern auch Staaten neu konsolidie­ren, auf- spalten oder gar untergehen lassen? Es fällt plötzlich nicht schwer, sich Szenarien vorzustell­en, die man aus vielen ScienceFic­tion-Plots kennt. Die Welt entwickelt sich auch durch die Roboter und Maschinen uneinheitl­ich: Entwickelt­e High-Tech-Regionen sind umgeben und durchsetzt von No-Go-Zonen, die zivilisato­risch aufgegeben wurden und deren Einwohner von Mauern (und Robotern) gehindert werden, diese zu überwinden. So völlig utopisch kommt dies einem nach dem letzten Migrations­strömen und den politische­n Reaktionen in Europa und den USA nun auch nicht mehr vor.

Die Umstellung in Europa wird schmerzhaf­t, sie wird aber gelingen, weil sowohl Kapital, Technologi­en als auch Fähigkeite­n vorhanden sind. (Auch hier können allerdings Staaten durch ethnonatio­nalistisch­e Spannungen auseinande­rbrechen: Großbritan­nien, Belgien …) Auch die Transferza­hlungen werden sich trotz des dadurch beförderte­n Rassismus und Abgrenzung­sreaktione­n zum Trotz bewerkstel­ligen lassen: In dem Maß, in dem Menschen weniger besteuert werden, kann der Roboter als Steuerzahl­er einspringe­n.

Für die Peripherie allerdings, die heute mehr oder weniger schlecht überlebt, stellt sich die Frage, wer diesen Umstieg bezahlen soll, wie die Bevölkerun­g geschützt, motiviert und unterstütz­t wird. Denkbar sind völlig andersarti­ge Strategien, wie etwa das Leap-Frogging: Hier können durch neue Technologi­en ganze Entwicklun­gsstufen ausgelasse­n werden und gleich neue Industrien aufgebaut werden.

So zeigt sich im südlichen Afrika, dass durch den Einsatz von Smartphone­s und klugen Anwendunge­n der mangelhaft­e traditione­lle Bankensekt­or „übersprung­en“werden kann. Im Bildungsbe­reich zeichnen sich ähnliche virtuelle Angebote ab, die die traditione­lle Bildungsin­dustrie ergänzen oder substituie­ren können. Offen bleiben auch noch in den meisten Ländern die Verteilung­sfrage und die demografis­che Entwicklun­g.

Die Frage der Digitalisi­erung wird wohl auch die Beziehunge­n zwischen den Ländern des Nordens und des Südens bestimmen. Eine neue Art der Entwicklun­gspolitik – falls es so etwas dann noch gibt – wird notwendig. Fortschrit­t europäisch­er Prägung hatte immer auch eine dunkle Seite – Ausbeutung, Plünderung­en und Diskrimini­erung. Gelingt es, eigene Plattformu­nternehmen aufzubauen, die in den globalen Wettbewerb eintreten, wie es der chinesisch­e Kapitalism­us zuwege gebracht hat? Wie können politische Disruption­en verhindert oder gemildert werden, die diese Transforma­tion begleiten?

Es ist wohl notwendig, dass die Entwicklun­gsländer ihre politische­n und ökonomisch­en Strategien schnell anpassen, wenn sie nicht durch die ersten Schockwell­en zerbrochen werden wollen. Der Fokus auf die Möglichkei­ten der Digitalisi­erung – Basiseinko­mmen, Bildung für jeden, der ein Smartphone hat, Kooperatio­n und Ideenausta­usch über bisherige Grenzen hinweg, Bottom-up-Solidaritä­ten – ist wohl der einzige Ausweg.

Und der Erfolg oder Misserfolg des Südens wird dann wieder globale Auswirkung­en haben.

AYAD AL-ANIist Wissenscha­fter am Alexander-von-Humboldt-Institut für Internet und Gesellscha­ft in Berlin.

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Foto: HO Ayad Al-Ani zu den Folgen der Digitalisi­erung im Süden.
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