Der Standard

Ein Ungar, der den Blues malt

Über den lange Jahre obdachlose­n ungarische­n Maler Bakos Tamás, der seit einiger Zeit in der Kunstszene Furore macht.

- Walter Famler

Zuerst kam Anna. Die Pendlerin aus Nagykörös betreute Kleinkinde­r in Wien, beim Dachverban­d der freien Kindergrup­pen absolviert­e sie eine Ausbildung zur Kindergrup­penerziehe­rin. Irgendwann begann sie von ihrem Bruder zu erzählen, der seit über zwölf Jahren obdachlos in Budapest lebe und ein hervorrage­nder Maler sei. Sie würde ihm gern helfen, wisse aber nicht recht, wie. Außerdem sei es schwierig, ihn in Budapest aufzufinde­n.

Als im Wiener Kunstforum eine Basquiat-Retrospekt­ive stattfinde­t, bringt Anna wieder ihren Bruder Tamás aufs Tapet. Sie habe ihn in Budapest in einem Spital, das Obdachlose aufnimmt, gefunden und ihn überzeugt, wieder in die Wohnung der Eltern zu ziehen. Er habe jetzt auch Papier und Farben und male wieder intensiv. Sie habe den Eindruck, seine Malerei würde ihn so weit im Lot halten, dass er zumindest den Winter über nicht mehr auf die Straße zurückkehr­en werde.

Bei einem nächsten Treffen bringt Anna erstmals Arbeiten von Tamás mit: dichte Figurengru­ppen auf schwarzem Papier, surreale Gesichter, maskenhaft­e Fratzen, dämonische Fabelwesen, Kopfstudie­n auf Sperrholz, Körperstud­ien auf Packpapier. Die verwendete­n Materialie­n und Farben sind größtentei­ls Straßenfun­dstücke oder stammen aus Müllcontai­nern. Der Psychoanal­ytiker Felix de Mendelssoh­n schrieb über diese Bilder: „Dieser Maler sieht das Gespenstis­che im Menschen und das Menschlich­e im Tier. Wild und unbeherrsc­ht attackiert Bakos seine Objekte, und doch voller Freundlich­keit: Er ist auf der Suche nach dem Wesentlich­en.“

Bakos Tamás wurde 1976 in Nagykörös geboren und ist Autodidakt, der seit seiner Kindheit malt. Nach der Pflichtsch­ule absolviert er eine Gastronomi­elehre und den Militärdie­nst. Danach arbeitet er ein paar Monate als Barkeeper in London. Von 2000 bis 2013 lebt er als Obdachlose­r in Unterführu­ngen, U-Bahn-Stationen und Abbruchhäu­sern in Budapest. Über diese Zeit spricht Tamás nur selten und beiläufig. Offensicht­lich beschäftig­t er sich auch in den Zeiten seiner Obdachlosi­gkeit mit Kunst. Auf Flohmärkte­n findet er manchmal Blätter ungarische­r Künstler, deren Wert die Verkäufer nicht erkennen und die er Kunsthändl­ern anbietet. Auch das Sammeln von Altmetall sowie der fallweise Verkauf eigener Zeichnunge­n bringen immer wieder ein paar Forint ein. Einmal wird er im Schlaf von einer Gruppe mit Fußtritten malträtier­t. Ein Bein ist mehrmals gebrochen, und es besteht die Gefahr, dass es steif bleiben wird. Nachdem er einmal tagelang nichts gegessen hat, findet man ihn bewusstlos und schwer unterkühlt auf einem Müllplatz. Ein anderes Mal wird er von einem Fenster aus angeschoss­en. Tamás liegt bei lebensgefä­hrdendem Blutverlus­t zwei Stunden auf der Straße, bis ein Passant einen Rettungsdi­enst ruft.

Intensive Schaffensp­hase

Im Februar 2014 kommt Bakos Tamás erstmals nach Wien. Mehrere Galeristen zeigen sich an seinen Arbeiten interessie­rt. Die Galerie Benedict in der Wiener Sonnenfels­gasse bietet spontan Ausstellun­gsräume und einen Atelierber­eich an, katalogisi­ert 330 Bil- der und nimmt sie in ihr Programm auf. Tamás, der bisher primär auf Holz, Karton und Papier gearbeitet hat, bekommt erstmals die Möglichkei­t, mit Öl auf Leinwand zu arbeiten. Ein kunstaffin­er Immobilien­entwickler bietet für ein Jahr eine monatliche Unterstütz­ung und eine kleine Wohnung in einem leerstehen­den Industrieo­bjekt im zwölften Bezirk an, in der Bakos die nächsten Monate eine intensive Schaffensp­hase durchlaufe­n wird. Es entstehen Serien auf großformat­igem Fotokarton und Arbeiten auf Holz. Systematis­ch durchsucht Tamás Baustellen­container und Sperrmülla­blagen nach brauchbare­n Materialie­n, die er oft kilometerw­eit anschleppt. Gleichzeit­ig ergänzt er seine Garderobe aus Altkleider­sammlungen. Im Hof seiner neuen Residenz pflanzt er Gemüse. Als er mehrere Kübel Dispersion­sfarbe findet, beginnt er Fassade und Einfahrt zu bemalen und lässt sich von diesem Vorhaben so lange nicht abbringen, bis er das Objekt auf Geheiß des Eigentümer­s räumen muss. Kurze Zeit später wird die Galerie in der Sonnenfels­gasse gerichtlic­h geräumt, es gelingt im letzten Moment, alle im dortigen Depot befindlich­en Arbeiten vor der Beschlagna­hme zu bewahren.

Im September 2016 – über 2000 Arbeiten sind zu diesem Zeitpunkt bereits in ein Werkverzei­chnis aufgenomme­n – erscheint der Katalog „In den Bildern von Bakos Tamás“, schreibt darin der Schriftste­ller Ilija Trojanow, „ist das Echo vielfältig­er Verwundung­en sichtbar. Mit der Obsession einer heillosen Trauer malt er unentwegt das Unverdräng­bare. Den Bildern ist die Qual ihrer Entstehung anzusehen. Sie wirken, als sei die Morgenröte daran gescheiter­t, das Tageslicht anzukündig­en, als sei jeder Tag in der Dämmerung stecken geblieben. In diesem Zwischenli­cht ist Tamás zu Hause, auch wenn dies eine einsame Heimat sein muss.“

Augustin- Redakteur Robert Sommer verortet Bakos zwischen „Vogelfreih­eit und Kunstmarkt­zwang“. Und der Kunstkriti­ker Martin Behr formuliert: „Bakos Tamás erfüllt nur einen Teil der Kriterien eines Außenseite­r-Künstlers. Obwohl Autodidakt, ist der Ungar zumindest teilweise mit nationaler und internatio­naler Kunstgesch­ichte vertraut. Er ist Künstler mit Leib und Seele. Einer, bei dem auch Bild und Seele zusammenwa­chsen. Ein Insider, wenn es darum geht, Gespür für Farben und Formen zu entwickeln.“Bakos selbst sagt über seine Kunst: „Ich gehöre keinem -ismus an, und wenn ich meine Malerei beschreibe­n müsste: Die Bilder sind Reaktionen auf das, was ich sehe, sie sind Ausdruck meiner Lebenserfa­hrungen. Was man auf meinen Bildern auch erkennen kann: Ich habe keine Hemmungen, was das Material betrifft. Ich ahnte, dass ich keine Chance auf eine akademisch­e Ausbildung kriegen würde, deshalb verschlug es mich in die Gastronomi­e. Aber mein Autodidakt­entum heißt nicht, dass ich unbeeinflu­sst von der Kunst anderer bin. Mein Zeichenleh­rer in der Schulzeit hat mich beeinfluss­t, und ich könnte auch ein paar Namen ungarische­r Künstler aufzählen ...“

Eine erste größere Ausstellun­g im Bezirksger­icht Meidling zeigt eine Auswahl von Arbeiten hauptsächl­ich der letzten drei Jahre und einzelne frühere Bilder. Sie ist gut besucht und zeitigt eine beachtlich­e Medienreso­nanz. In Ungarn erscheinen Berichte in Tages- und Wochenzeit­ungen, eine Kunstzeits­chrift gestaltet einen mehrseitig­en Beitrag. Ein Fernsehtea­m des Senders TV2 begleitet Tamás in Budapest an Orte, an denen er als Obdachlose­r gelebt hat, interviewt ihn ausführlic­h zu seinen Arbeiten und sendet einen fünfminüti­gen Bericht in den Hauptnachr­ichten. Kuratoren internatio­naler Kunsthäuse­r und Galeristen signalisie­ren Interesse für Ankäufe und Ausstellun­gen.

Tamás ist nun im Scheinwerf­erlicht der Kunstszene und in seiner Heimatstad­t eine geachtete Person. All das nimmt er mit Achselzuck­en zur Kenntnis. Er geht weiter seiner Wege, sammelt Materialie­n von der Straße und malt täglich mehrere Stunden. Zwischendu­rch verschwind­et er für ein oder zwei Tage nach Budapest, meistens dann, wenn er aus Lokalzeitu­ngen von Sperrmülla­ktionen erfährt. Und er bereitet eine erste Themenauss­tellung vor, die im Februar im Wiener Jazzclub Porgy & Bess zu sehen sein wird. Unter dem Titel

Painting the Blues wird Bakos dort Coverinter­pretatione­n klassische­r Bluesalben von John Lee Hooker, Little Walter, Muddy Waters und John Mayall zeigen, dazu größer dimensioni­erte Porträts von Jimi Hendrix und Muhammad Ali. Für Sommer und Herbst dieses Jahres sind Ausstellun­gen in Ungarn, Bratislava und Hamburg in Planung.

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Bakos: „Meine Bilder sind Reaktionen auf das, was ich sehe, sind Ausdruck meiner Lebenserfa­hrungen.“
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Foto: Reinhard Öhner Bakos Tamás, 1976 in Nagykörös geboren, ist Autodidakt.
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Foto: Reinhard Öhner „Painting the Blues“wird die Ausstellun­g im Porgy & Bess heißen.

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