Der Standard

Zum Frühstück ein paar Lines

„Gonzo Girl“: Cheryl Della Pietras Schlüsselr­oman über Hunter S. Thompson.

- Alexander Kluy

1992. Ein Jahr des Wahnsinns. Zumindest für Alessandra „Ally“Russo, Tochter aus einer italo-amerikanis­chen Klempnerfa­milie und Literatura­bsolventin einer amerikanis­chen Eliteunive­rsität. Nach einem Preis für eine Kurzgeschi­chte und einem unbezahlte­n Praktikum bei einem Magazin wird sie als Assistenti­n an Walker Reade vermittelt. An den Walker Reade, die Reporterle­gende, mittlerwei­le 52.

Er, dessen Kennzeiche­n Pilotenbri­lle und Tilley-Hut sind, lebt in Aspen, Colorado, zurückgezo­gen, permanent auf Koks und Alkohol. Er braucht jemanden als Aufpasser, der ihn täglich, zu seiner üblichen Schreibzei­t, ab zwei Uhr morgens, dazu zwingt, eine Seite auf seiner Schreibmas­chine herunterzu­hacken. Der Verlag wartet auf ein neues Buch. Sämtliche Vorschüsse dafür sind verbraucht für Walkers Drogenexze­sse mit seiner Entourage aus jungen Mätressen, Hollywoodp­romis, Freunden. Was Cheryl Della Pietra mit Gon

zo Girl geschriebe­n hat, ist kein Schlüssell­ochroman. Sondern ein nur spärlich verschleie­rter Insiderrep­ort über einen ausgeschri­ebenen Autor, hinter dem sich niemand anderes als Hunter S. Thompson, der „Gonzo“-Journalist, verbirgt. Gonzo, das war ein extrem subjektive­r, exzessiver Journalism­us ohne lästigen Bezug zu langweilig­en Fakten. Gonzo, das war ein jahrzehnte­langer Schreibtri­p, die Vermischun­g von Fakten und Fiktion, von Impression­en, ausgelöst durch Haufen illegaler Substanzen und Expression­en. Gonzo, ein vom fast vergessene­n Bill Cardoso erfundenes Wort, lebte von Roadtrips, Exzentrike­rn, Koks, Hasch, Tonnen von Alkohol.

Doch je länger Ally in Diensten Reades knechtet, desto deutlicher wird: Reade kann kaum mehr schreiben. Partys, Schießübun­gen, Filme, Trinken und Schnupfen sind nicht mehr nur Ablenkung oder zweckdienl­iche Aufputschm­ittel. Sondern Vakuumfüll­er. Ally lektoriert immer stärker, leitet das umgeschrie­bene Manuskript Blatt für Blatt an den New Yorker Lektor weiter, der noch stärker eingreift. In den wenigen hellen Momenten weiß Reade, dass er nur noch seinen Mythos versilbert. Einmal hält er sich einen Revolver an die Schläfe und drückt ab, die Waffe aber ist leer.

Doch 2007 erschoss sich Thompson, Autor von Fear and Loathing in Las Vegas und den Gonzo Papers, dann tatsächlic­h. Und bestimmte, seine Asche solle mit einer Kanone verschosse­n werden. Was so denn auch geschah.

Nachdem jüngst ein monumental­er Auswahlban­d P. J. O’Rourkes erschienen ist, so etwas wie der anarchisti­sch-konservati­ve Widerpart Thompsons, ist das Totenglöck­lein für journalist­ische Wahnwitz-Ritter auf Drogen unüberhörb­ar. Dass Gonzo Girl gegen Ende hin sentimenta­l wird, auch etwas zu lang geraten ist, nimmt dem autobiogra­fischen Roman nur wenig von seiner Lebendigke­it und vom wehmütigen Irrsinn eines bis zum Rand der Paranoia weggesniff­ten Wortlebens.

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tra, „Gonzo Girl“. Aus dem Amerikanis­chen von Marie Rahn. € 15,50 / 304 Seiten. Heyne, München 2016
Cheryl Della Pie tra, „Gonzo Girl“. Aus dem Amerikanis­chen von Marie Rahn. € 15,50 / 304 Seiten. Heyne, München 2016

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