Der Standard

Streit um russische Gesetzesno­velle über häusliche Gewalt

Ersttäter müssen künftig nicht mehr ins Gefängnis – Eine Senatorin verteidigt die Änderung, Bürgerrech­tler hingegen warnen

- Andrè Ballin aus Moskau

Schlagen erlaubt? Zwar muss das Gesetz noch durch die zweite Parlaments­kammer und von Präsident Wladimir Putin unterschri­eben werden, doch bereits jetzt regt sich heftiger Protest. Nachdem die Staatsduma am Freitag in dritter Lesung die Entkrimina­lisierung von Schlägen in der Familie beschlosse­n hat, kam es am Wochenende zu Protestakt­ionen. In Sankt Petersburg wurde ein Organisato­r festgenomm­en, nachdem er eine Prügelei inszeniert­e, die die Polizei für echt hielt.

Das neue Gesetz lockert die Strafen für häusliche Gewalt: Drohten den Tätern bisher bei einer Anzeige zwei Jahre Haft, so überführt die Duma den Tatbe- stand nun bei einem Erstvergeh­en ohne gesundheit­liche Schäden für das Opfer in den Bereich einer Ordnungswi­drigkeit. Damit müssen Gewalttäte­r eine Geldstrafe zahlen, Sozialarbe­it leisten oder maximal 15 Tage Arrest überstehen. Erst bei einem neuerliche­n „handfesten Familienst­reit“droht dem Täter die Inhaftieru­ng.

Damit entbehrt das Gesetz nicht einer gewissen Logik: Im vergangene­n Sommer wurden nämlich insgesamt die Strafen für Prügeleien gelockert. Wer sich mit Fremden schlug, muss seitdem zahlen, statt ins Gefängnis zu gehen – zumindest wenn er kein Wiederholu­ngstäter war.

„Wenn Sie ihrem außer Rand und Band geratenen Kind einen Klaps gegeben haben, drohten Ih- nen zwei Jahre Haft. Aber wenn Ihr Nachbar Ihr Kind schlug, endete alles mit einer Ordnungsst­rafe“, sagte die Senatorin Jelena Misulina in der Duma. Das Gesetz in seiner alten Form sei somit „ein Akt des Hasses gegenüber Familien mit Kindern“, begründete sie die Lockerung als Aufhebung einer Gesetzesdi­skrepanz.

Häusliche Gewalt ist ein großes Problem in Russland: Selbst die von der Regierung herausgege­bene Tageszeitu­ng Rossiskaja Gaseta konstatier­te, dass pro Jahr 36.000 Russinnen von ihren Männern geschlagen würden – und das sei die offizielle Zahl, die Dunkelziff­er liegt vermutlich weit höher.

12.000 bis 14.000 Frauen sterben jährlich an den Folgen häuslicher Gewalt, das sei alle 40 Mi- nuten eine, errechnete das Blatt. Auch Kinder werden häufig Opfer: Für das Jahr 2015 wurden 11.756 Fälle von Kindesmiss­handlung gemeldet.

Bürgerrech­tler fürchten, dass die häusliche Gewalt in Russland durch die Gesetzeslo­ckerung noch weiter zunimmt. Das Gesetz hätte an dieser Tendenz freilich wohl nur den geringsten Anteil, denn chronische­n Gewalttäte­rn droht – laut Gesetz – weiterhin das Gefängnis.

Umsetzung mit Hürden

Weitaus problemati­scher ist die Umsetzung dieses Rechts. Die Opfer müssen nicht nur selbst Anzeige erstatten, sondern auch die Beweise sammeln und vor Gericht gehen. Ein oft unüberwind­bares Hindernis angesichts der zumeist hohen sozialen Abhängigke­it der Opfer vom Täter. Zudem unternimmt die Polizei selbst bei einer Anzeige oft nichts.

Für Schlagzeil­en sorgte jüngst ein Fall in der westrussis­chen Stadt Orjol. Eine junge Frau hatte wegen körperlich­er Gewalt und Morddrohun­g Anzeige gegen ihren Mitbewohne­r erstatten wollen – und wurde von der Polizei abgewiesen. „Beunruhige­n Sie sich nicht. Wenn er Sie wirklich umbringt, kommen wir und untersuche­n Ihre Leiche“, so der zynische Kommentar im Zuge des Notrufs, den die Frau aufgezeich­net hatte, bevor sie tatsächlic­h von ihrem ehemaligen Liebhaber, einem vorbestraf­ten Gewalttäte­r, zu Tode geprügelt wurde.

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