Der Standard

Eine Jugend mit vier Fragezeich­en

Paul Auster folgt in „4321“einem jugendlich­en Alter Ego durch vier alternativ­e Lebensentw­ürfe. Mit dem Roman ergründet der US-Romancier auch Zufall und Notwendigk­eit des eigenen Schreibens.

- Dominik Kamalzadeh

Wien – Am Ende eines Lebens hat jeder Mensch seine eigene Erzählung verwirklic­ht. Anders zu Beginn, da stehen alle Ausgänge offen, und bei jeder Entscheidu­ng schließt sich eine Tür, während sich zugleich andere wieder öffnen. Der US-Schriftste­ller Paul Auster hat sich in seinen Romanen schon oft mit Fragen nach Kontingenz und Schicksals­haftigkeit befasst. Und es waren dann stets die Möglichkei­ten des Erzählens, die ihm dazu verhalfen, der vermeintli­ch starren Kausalität des realen Lebens ins Getriebe zu blicken und einiges darin zu manipulier­en.

Mit seinem neuen Roman 4321, der am Dienstag im Original und in diversen Übersetzun­gen erscheint, schließt Auster ausdrückli­ch wie selten davor an dieses Prinzip an. Mit voluminöse­n 1260 Seiten vermittelt das Buch schon physisch, dass es diesmal um Grundlegen­des geht. Opulenz ist in diesem Fall aber auch abhängig von der erzähleris­chen Form, schließlic­h folgt der Autor seiner Figur gleich durch vier alternativ­e Lebensszen­arien. Man kennt das Prinzip aus der Science-Fiction: Parallelun­iversen, in denen bis auf wenige Unterschie­de zunächst alles recht ähnlich ist.

Diese Figur heißt Archie Ferguson, sie kommt – wie Auster selbst – 1947 in Newark, New Jersey, als Sohn eines jüdischen Eltern- paares zur Welt. Der Name Ferguson, erfahren wir, verdankt sich einer anekdotisc­hen Begebenhei­t, einem Gag, mit dem der Roman beginnt. Großvater Isaac antwortet dem Grenzbeamt­en auf Ellis Island nämlich auf die Frage, wie er heißt: „Ich hob fargessen“– woraus Ichabod Ferguson wird. Das führt, jenseits der Pointe, auch direkt zu Austers Identitäts­politik: Ein neuer Name im damals noch als „Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten“gepriesene­n Amerika – das ist die Chance eines Lebens.

Feuer und Tod

Dem Großvater gelingt noch wenig – er wird bald erschossen –, doch Archie geht viermal an den Start. Die erste Weiche kommt in Form äußerer Gewalt. Sie erschütter­t den sozialen Status der Familie und formt damit den weiteren Lebenslauf des Jungen mit. Das Warenhaus des Vaters brennt nieder, einmal kassiert dieser die Versicheru­ngssumme, ein anderes Mal kommt er darin um. Ein weiteres Mal wird es bloß Schauplatz eines Raubs, während der Vater in der vierten Variation seine unverlässl­ichen Brüder schon früh aus dem Geschäft entfernt und damit das Ereignis gänzlich verhindert.

Überrasche­nd an 4321 ist jedoch bald weniger dieses Spiel aus Wiederholu­ng und Differenz, für das man Auster seit der NewYork-Trilogie schätzt, sondern die Geduld und der Eifer, mit denen er die Parallelst­ränge und deren zeithistor­ischen Einfärbung­en ausbreitet, ja mitunter auch ermüdend detailreic­h ausmalt. Das Buch wirkt für seine erzähleris­che Prämisse erstaunlic­h unkonstrui­ert, die aufgeräumt­en Sätze früherer Bücher sind Satzgirlan­den gewichen, die wie Netze ineinander­greifen und die atemlosen Reflexione­n des Protagonis­ten nie zur Ruhe kommen lassen.

Das Schreiben sei mittlerwei­le „ganz Körper, ganz Instinkt“, erzählt der bald 70-Jährige gerade in Interviews. In den gelungenst­en Passagen übersetzt sich dieser habituelle Zugang als Ausdruck der Euphorie der Jugend, von Archies Entdeckung­slust, sei sie auf Literatur, Kino oder sexuelle Erfahrunge­n gerichtet; in den schwächere­n wird daraus ein enzyklopäd­isches Aufzählen von Begegnunge­n und Leidenscha­ften, von Film- und Literaturk­anons, die den Aufwachsen­den mehr verpacken als wirklich ergründen.

4321 ist als Coming-of-Age-Roman – er reicht bis ins Jahr 1970 – freilich auch abhängig von den äußeren Entwicklun­gen, die Archie erst zum gesellscha­ftlichen Subjekt reifen lassen. Es sind die bewegten 1960er-Jahre – John F. Kennedys Aufstieg und Ermordung, das Aufkommen der Minderheit­enbewegung, die Rassenunru­hen in Newark, der Riss zwischen den Generation­en, der schließlic­h in die Studentenu­nruhen in der Columbia University mündet –, die jede Ausgabe des Helden auf unterschie­dliche Weise prägen; nicht auf dieselbe Art schon deshalb, weil es nicht alle lebend bis ans Ende schaffen.

Eine weitere Konstante bleibt Amy Schneiderm­an, Archies erste Liebe, die nicht in jeder Version seines Lebens so lang an seiner Seite schläft, wie er es sich erhoffen würde. Das aufgeweckt­e, so sinnliche wie intellektu­elle Mädchen ist politisch viel direkter im Geschehen der Zeit verwurzelt als der Held selbst. Sie nimmt etwa aktiv am Aufstand der Studenten teil, wohingegen er ein abwägender Beobachter bleibt, der den ideologisc­hen Verhärtung­en mit wachsender Skepsis begegnet.

Wege zum Schriftste­llertum

Auster hat mit 4321 mehr einen Künstlerro­man als einen Bildungsro­man geschriebe­n, eine auch autobiogra­fisch durchwirkt­e Versuchsan­ordnung, in der er noch einmal die möglichen Wege beschreite­t, die einen jungen New Yorker der Nachkriegs­generation zum Autor machen. Der Kern der Entwicklun­g von Archie Ferguson bleibt die Beharrlich­keit, eben schreibend die Welt erfassen zu wollen, sei es als Journalist, als Biograf oder als Schriftste­ller.

Der vaterlose Archie, der einsamste, getriebens­te der vier Varianten, der auch mit sexuellen Identitäte­n experiment­iert, bleibt seinen im kulturelle­n Milieu von New York verharrend­en Wiedergäng­ern überlegen. Dies mag man als Beweis dafür sehen, dass Auster am fesselndst­en erzählt, wenn er nicht zu eng an den Maßgaben der Realität operiert, sondern sich bedingungs­loser der Fiktion hingibt. Und dafür, dass es nicht aller Extrameile­n bedurft hätte. Paul Auster, „4321“. Aus dem Amerikanis­chen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. 1260 Seiten / 30,80 €, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017

 ?? Foto: Matthias Cremer ?? Er schreibe mittlerwei­le mehr aus dem Bauch heraus, sagt Paul Auster über seinen neuen Roman „4321“. Sein Protagonis­t Archie Ferguson teilt mit seinem Autor nicht nur das Geburtsjah­r, sondern auch die Faszinatio­n für das geschriebe­ne Wort.
Foto: Matthias Cremer Er schreibe mittlerwei­le mehr aus dem Bauch heraus, sagt Paul Auster über seinen neuen Roman „4321“. Sein Protagonis­t Archie Ferguson teilt mit seinem Autor nicht nur das Geburtsjah­r, sondern auch die Faszinatio­n für das geschriebe­ne Wort.

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