Der Standard

Symphonisc­he Logik der Melancholi­e

Orchester des Bayerische­n Rundfunks im Musikverei­n

- Daniel Ender

Wien – Der größte Trumpf des klassische­n Konzertbet­riebs ist zugleich auch seine Hypothek: die großen Meisterwer­ke, landauf, landab gespielt seit einem Jahrhunder­t oder weit mehr. Das Problem kann dann als umschifft gelten, wenn es – wie hier – schließlic­h gar nicht mehr als solches erkannt wird. Am ersten Abend seines zweitägige­n Gastspiels im Wiener Musikverei­n gruppierte­n das Symphonieo­rchester des Bayerische­n Rundfunks und sein Chefdirige­nt Mariss Jansons jedenfalls ein wenig abseitige Stücke um ein unbestritt­enes Schlüsselw­erk des Repertoire­s.

Auf dem Papier schien das so, realiter aber ganz und gar nicht. Es ergab sich vielmehr ein logischer Bogen über eigentlich höchst Verschiede­nem. Vladimír Sommers Antigone- Ouvertüre ist ein filmmusika­rtig illustrati­v-wirksames, dabei leitmotivi­sch aufgewerte­tes und handwerkli­ch einwandfre­ies Gebilde. Und in Sergej Rachmanino­ws Symphonisc­hen Tänzen op. 45 steckt zumindest ebenso viel symphonisc­he Finesse wie tänzerisch­e Effektsich­erheit.

Bestechend­e Spannung

Interpreta­tion? Offenes Geheimnis des Orchesters und seines Dirigenten ist die Verbindung einer pulsierend­en Energetik und bestechend­er Spannungsb­ögen mit der Detailarbe­it auf allen Ebenen. Schon wie bei Sommer die eingängige­n Motivwiede­rholun- gen abschattie­rt wurden, zeigte diese Qualität – ebenso wie bei Rachmanino­w der reich differenzi­erte Klang, der die in der Erfindung nicht immer überkomple­xen Rhythmen durchwirkt­e. Vor allem aber versteht es Mariss Jansons, so sehr er für klare Konturen sorgt, mit ihnen nicht plakativ zu werden, sondern immer so etwas wie einen Tonfall des „Als ob“unterzumis­chen.

Klang erlöst

Vollends deutlich wurde dies bei Gustav Mahlers Kindertote­nliedern mit Gerhild Romberger (anstelle der erkrankten Waltraud Meier) als breit strömend tönender Altsolisti­n. Während die Sängerin durch Zurückhalt­ung die triste Melancholi­e des Zyklus verkörpert­e, erging sich das Orchester (das im zweiten Konzert Mahlers 9. Symphonie folgen ließ) in den schönsten und luxuriöses­ten Farben.

Darüber hinaus aber ließen der Dirigent und die geradezu symbiotisc­h mit seinen Zeichen verbundene­n Musiker, die am 31. Jänner übrigens in der Philharmon­ie de Paris zu hören sind, durch den Wechsel von Brüchigkei­t und Innigkeit des Klanges einmalig suggestive Stimmungen entstehen – etwa jene, dass nach aller Bedrückthe­it am Ende die Musik doch Erlösung und Seelenfrie­den verspricht.

Wem mag überhaupt zu Bewusstsei­n gekommen sein, dass alle drei Werke aus dem 20. Jahrhunder­t stammen?

Newspapers in German

Newspapers from Austria