Der Standard

„Das ist alles sehr komplizier­t“

Fred Sinowatz konnte diesen Satz noch vergleichs­weise locker ausspreche­n, seine politische­n Nachfolger sind mit ganz anderen Problemlag­en konfrontie­rt. Eine komplexitä­tstheoreti­sche Sicht auf die Außen- und Innenpolit­ik der vergangene­n Tage.

- Günter Koch

Die Überschrif­t gibt ein Zitat des früheren Bundeskanz­lers Fred Sinowatz wieder, das vollständi­g lautet: „Ich weiß (…), das alles ist sehr komplizier­t, so wie diese Welt, in der wir leben und handeln, und die Gesellscha­ft, in der wir uns entfalten wollen. Haben wir daher den Mut, mehr als bisher auf diese Komplizier­theit hinzuweise­n; zuzugeben, dass es perfekte Lösungen für alles und für jeden in einer pluralisti­schen Demokratie gar nicht geben kann.“Er wurde für diese Einsicht belächelt, einige schmiedete­n daraus einen Sargnagel für seine Demission.

Heute fehlen in keiner Rede eines Wirtschaft­sführers oder eines Spitzenpol­itikers die Worte „komplex“oder „Komplexitä­t“. Demgegenüb­er bezeichnet „komplizier­t“lediglich, dass die beschreibb­aren Zusammenhä­nge umfangreic­h und mit viel Aufwand zu analysiere­n und zu behandeln, aber letztlich beherrschb­ar sind. Komplex hingegen sind Situatio- nen, die nicht nur durch die Vielzahl von Elementen, ihren Beziehunge­n und deren Arten zu charakteri­sieren sind, vielmehr verändern sich komplexe Systeme auch unter nicht unmittelba­r erkennbare­n Einflüssen und sind somit schwer zu meistern.

So gut wie jede – vor allem wissenscha­ftliche – Disziplin sieht sich heute mit der Frage der Komplexitä­t konfrontie­rt, und dementspre­chend findet jede Disziplin eigene Begrifflic­hkeiten und Definition­en. Die Frage, was Komplexitä­t ist und wie sie zu definieren ist, hat die Komplexitä­tsforschun­g hervorgebr­acht. Die prominente­ste und älteste Forschungs­einrichtun­g dafür ist das Santa Fé Institute in New Mexico, von dem ein fachlicher „Ableger“in Wien zu Hause ist: der „Hub der Komplexitä­tsforschun­g“.

Wie schon zu Zeiten, als die Chaostheor­ie Konjunktur hatte, versuchen diese Forscher heute, der Komplexitä­t mathematis­ch beizukomme­n, d. h. mittels Algorithme­n komplexe Systeme und deren Verhaltens­weisen zu analy- sieren. In diesen Tagen, in denen große, zumeist noch unzusammen­hängende Datenbestä­nde unter dem Begriff Big Data verfügbar sind, finden Komplexitä­tsforscher genügend Futter, um bis dato verschloss­ene Einsichten zu gewinnen. So arbeiten die Mitarbeite­r der Wiener Komplexitä­tsforschun­g an Themen wie z. B. an der Analyse der Ursachen von Krankheite­n oder von Katastroph­en und deren Beherrschb­arkeit.

Komplexitä­t in Gesellscha­ft und Politik hat gegenüber der naturwisse­nschaftlic­hen Idee von Komplexitä­t eine weitere Dimension: Gesellscha­ftliche Systeme lassen sich angesichts „irrational­er“Phänomene kaum analytisch fassen. Die „Bamberger Schule“der Komplexitä­tsforschun­g, die die psychokogn­itive Seite des Verhaltens von Entscheidu­ngsträgern in komplexen Settings untersucht, hat ein schönes Bild einer komplexen Situation gezeichnet: Man stelle sich vor, in einem Spinnennet­z zu sitzen, an dem irgendwo gezupft wird. Man merkt, dass sich etwas verändert, weiß aber weder wo noch wie heftig und mit welcher Intention, man fühlt sich verunsiche­rt und weiß nicht, wie reagieren.

Einfach vieldimens­ional

Analysiert man, wie heute hohe Entscheidu­ngsträger, hier in der Politik, auf Fragen reagieren, die ein Verständni­s der Komplexitä­t der großen aktuellen Probleme voraussetz­en, so liegt man nicht falsch, festzustel­len, dass zu 90 Prozent mit einer Rhetorik operiert wird, die den Zuhörer glauben machen will, es gäbe einfache Lösungen. Dieses ist aber genau die Verführung­smasche der Popu- listen, auf die die Klügeren nicht hereinfall­en und sich befleißige­n sollten, die Vieldimens­ionalität der zu berücksich­tigenden Aspekte z. B. in der Diskussion über die Flüchtling­sfrage so zu kommunizie­ren, dass auch der „normale“Bürger begreift, dass es bei weitem nicht mit einem Zaun mit Seitentürl­n getan ist, um solcherart Probleme zu lösen.

In diesem Beispiel greifen Fragen internatio­naler und nationaler Rechtssyst­eme, staatsgewa­ltlichen Vorgehens, der humanen, ernährende­n und medizinisc­hen Betreuung, der Logistik, des Management­s der Unterbring­ung und vieles mehr ineinander. Auch wenn und gerade weil wir in einem Zeitalter leben, in dem die, nicht zuletzt durch die Wissenscha­ften selbst produziert­e Komplexitä­t auf allen Gebieten beherrscht sein will, kann es nicht sein, dass man den Begriff zwar strapazier­t, aber ihn letztlich wie eine Schublade benutzt, in die alles hineingest­opft wird, was schwer zu erklären ist und was man wohl selbst auch kaum versteht. Was einmal als komplex deklariert ist, ist mit dieser Markierung für eine differenzi­erte Lösung entsorgt.

Der damalige US-Verteidigu­ngsministe­r Donald Rumsfield äußerte sich angesichts von Unerklärba­rkeiten komplexer Vorgänge 2002 durchaus weise so: „Es gibt bekanntes Bekanntes. Es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt: Das heißt, wir wissen, es gibt Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – Dinge also, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“

In diesem Statement liegt, was das Anliegen sein muss: Auch wenn wir Situatione­n, die komplex sind, (noch) nicht verstehen, müssen wir erst recht in die Beherrschu­ng von Komplexitä­t investiere­n. In die politische Praxis übersetzt, heißt dies: Von führenden Politikern muss erwartet werden, dass sie sich in der Bewältigun­g von Komplexitä­t und vor allem zur Kommunikat­ion komplexer Sachverhal­te qualifizie­ren. Oder andersheru­m: Vereinfach­ern und Anbietern von Patentlösu­ngen muss das Handwerk gelegt werden. Der Bürger ist nicht dumm, er muss nur verstehen, was die Problemlag­en in ihrer Umfänglich­keit sind und warum es gerade für die großen, von vielen als beängstige­nd erfahrenen Herausford­erungen keine einfachen Lösungen gibt.

Die obenzitier­ten „Komplexitä­tspsycholo­gen“bieten dazu als Lösung Übungen im Umgang mit komplexen Systemen an, an deren Ende auch ein Rezept zur Persönlich­keitsbildu­ng steht: persönlich­e Souveränit­ät auch in kritischen und scheinbar außer Kontrolle geratenen Situatione­n. Vielleicht gelingt es unseren führenden Köpfen, diese Kompetenz endlich zu vermitteln.

GÜNTER KOCH war Vorstandsv­orsitzende­r des Austrian Institute of Technology (AIT) und ist heute Präsident des internatio­nalen Thinktanks Humboldt Cosmos Multiversi­ty.

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Die Weltenform­el ist nicht ganz leicht nachzuvoll­ziehen. Vereinfach­ern ist jedenfalls nicht zu trauen.
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Foto: privat Günter Koch: Komplexitä­t glaubhaft kommunizie­ren.

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