Der Standard

Hoffnungst­räger Schulz

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Die überrasche­nde Nominierun­g des bisherigen EU-Parlaments­präsidente­n Martin Schulz zum Kanzlerkan­didaten und SPD-Vorsitzend­en nach dem Rückzug des farblosen Sigmar Gabriel dürfte wohl als die erste gute Nachricht für die deutschen Sozialdemo­kraten im Wahljahr 2017 bezeichnet werden. Die Umfragen und das Presseecho scheinen die von Schulz bereits in seiner ersten Rede behauptete Aufbruchss­timmung und Hoffnung für die Sozialdemo­kraten zu bestätigen. Schulz ist ein Politiker, der nach 23 Jahren im Europäisch­en Parlament, sieben Jahren als Fraktionsv­orsitzende­r, fünf Jahren als Parlaments­präsident, zu Recht im In- und Ausland als das Symbol für die Europäisch­e Union betrachtet wird.

Ist seine Nominierun­g angesichts des Auftriebs für die Extremiste­n der AfD nicht ein waghalsige­s Experiment? Die Wahl eines 61-jährigen Mannes ohne Regierungs­erfahrung (er war sieben Jahre Bürgermeis­ter einer Kleinstadt), ohne Matura, den 30 Prozent der Befragten in der jüngsten Spiegel- Umfrage nicht kennen, zum Kanzlerkan­didaten inmitten der größten Krise der Europäisch­en Union ist zweifellos ein beispiello­ser Vorgang in der deutschen Geschichte.

Man kann die unglaublic­he Geschichte von Martin Schulz nur dann wirklich verstehen, wenn man einen persönlich­en Eindruck von ihm gewinnt. Er ist ein mitreißend­er Redner und Diskutant. Nicht nur bei Versammlun­gen oder Parlaments­debatten, sondern auch bei einer geschlosse­nen Veranstalt­ung über ein scheinbar sperriges Thema.

So konnte man ihn in Wien vor rund fünf Jahren noch als sozialdemo­kratischen Fraktionsv­orsitzende­n, aber schon als Kandidaten für den Posten des EU-Parlaments­präsidente­n auf Einladung der Raiffeisen­Zentralban­k bei einem Vortrag zum Thema „Finanz- und Schuldenkr­ise: Macht und Ohnmacht der Europäisch­en Politik“erleben.

Ein glühender, aber auch kritischer Europäer, der, umfassend informiert, seine Positionen leidenscha­ftlich vertritt, mit scharfer Zunge formuliert. Er vermittelt­e auch in der Diskussion und im kleinen Kreis den Eindruck eines pragmatisc­hen und gemäßigten Sozialdemo­kraten.

Seine Stellungna­hmen in den letzten Jahren in allen wichtigen Fragen – Flüchtling­skrise; Russland-Sanktionen, Türkei-Abkommen, Rechtspopu­lismus, Syrienkrie­g – zeigten, dass er ein Europäer mit Herz und Seele ist. „Schulz sei ehrgeizig und machtbewus­st“, sagte Exbundeska­nzler Gerhard Schröder im Oktober, „ist mir sehr sympathisc­h“.

Obwohl in den Kernfragen der Europapoli­tik keine Unterschie­de zwischen Schulz und Bundeskanz­lerin Angela Merkel festzustel­len sind, könnte sich der „mehr denn je vor Ehrgeiz brennende Schulz“(so die FAZ) als ein gefährlich­er Gegner erweisen. Im Wahlkampf setzt Schulz aber auf Gerechtigk­eitsthemen. Er wolle den „tiefen Riss in der Gesellscha­ft überwinden und die Sorgen der hart arbeitende­n Menschen in den Mittelpunk­t unserer Politik stellen.“Es bleibt allerdings abzuwarten, ob und wie Schulz auf die Angriffe gegen seine Europapoli­tik von rechts und links reagieren wird. Der Wahlausgan­g ist jedenfalls völlig offen geworden.

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