Der Standard

Ungarns Rotschlamm­desaster muss neu verhandelt werden

Eine Richterin hob die Freisprüch­e der 15 hohen Angestellt­en der Aluminium AG wieder auf

- Gregor Mayer

Györ – Es war die schlimmste Umweltkata­strophe der modernen ungarische­n Geschichte: Als am 4. Oktober 2010 das Speicherbe­cken der Ungarische­n Aluminium-AG (MAL) bei Kolontár in Westungarn barst und sich eine giftige, rote Brühe über Kolontár und zwei weitere Gemeinden ergoss, starben zehn Menschen. 200 weitere Bewohner des Gebiets wurden verletzt, etliche erlitten schwere Verätzunge­n. Der Rotschlamm zerstörte mehr als 300 Häuser, verseuchte 800 Hektar Ackerland und mehrere Gewässer. 400 Familien verloren ihren Besitz.

Die Benennung der juristisch Verantwort­lichen blieb bisher aus. In einem von vielen Ungarn als empörend empfundene­n Urteil sprach das Gericht in Veszprém im Jänner des Vorjahres die 15 angeklagte­n MAL-Direktoren und -Manager frei. Am Montag kippte das Berufungsg­ericht in Györ die Freisprüch­e und ordnete ein komplett neues Verfahren an.

Das Urteil vom Vorjahr war offenbar juristisch schwach begründet und Produkt schwerer Verfahrens­fehler. Die Begründung der vorsitzend­en Richterin Csilla Zólyomi für dessen Annullieru­ng hätte vernichten­der nicht ausfal- len können. „Das Urteil erster Instanz entzieht sich der Möglichkei­t einer Revision, da aus ihm nicht hervorgeht, auf der Grundlage welcher Logik das Gericht zu den Freisprüch­en von allen Anklagepun­kten gelangt ist“, erklärte die Richterin in der mündlichen Verhandlun­g am Montag.

Angesehene Industrie

Ob erneut ein Gericht in Veszprém die Causa verhandeln wird, ist vorerst unklar. Offenbar war dies das Handicap des gescheiter­ten erstinstan­zlichen Verfahrens. Die Kleinstadt Veszprém ist das urbane Zentrum jener Region, in der die nach dem Unglück von 2010 wiedervers­taatlichte MAL ihre Aluminiums­chmelze und einen Teil ihrer gefährlich­en Speicherbe­cken für die rote Schlacke betreibt, das Abfallprod­ukt der Aluminiume­rzeugung. Die technische­n Experten und die Lehrenden der Technikleh­rstühle der örtlichen Universitä­t sind von einer kommunisti­schen Industriek­ultur geprägt, in der Planwirtsc­haftsgigan­ten wie die MAL unhinterfr­agbares Ansehen genossen.

So erzählten die Gutachter dem Gericht im Erstverfah­ren, dass das schadhaft gewordene Speicherbe­cken bereits zum Zeitpunkt seiner Errichtung eine Fehlplanun­g darstellte. Aber dafür könnten die Ingenieure der kommunisti­schen Zeit nichts, denn ihnen waren die Parameter der geologisch­en Zu- sammensetz­ung des Untergrund­s, auf dem die Anlage stand, nicht ausreichen­d bekannt. Alles Schicksal also, heute lebende Menschen oder gar Firmenboss­e könne keine Schuld treffen.

Die Katastroph­e von Kolontár und die bisherige juristisch­e Aufarbeitu­ng sind für Experten symptomati­sch für den schlampige­n Umgang mit Verantwort­ung in der Nachwendez­eit. Die Besitzer zum Zeitpunkt des Unglücks waren im Kommunismu­s mittlere Kader des Unternehme­ns. Nur dank ihrer politische­n Vernetzung mit der von 1994 bis 1998 regierende­n postkommun­istischen Sozialisti­schen Partei (MSZP) kamen sie bei der Privatisie­rung zu Vorzugsbed­ingungen zum Zug.

 ??  ?? Das Bild des gebrochene­n Damms des Rotschlamm­reservoirs nahe der ungarische­n Stadt Ajka kurz nach der Katastroph­e im Oktober 2010 (rechts) und fünf Jahre danach (links).
Das Bild des gebrochene­n Damms des Rotschlamm­reservoirs nahe der ungarische­n Stadt Ajka kurz nach der Katastroph­e im Oktober 2010 (rechts) und fünf Jahre danach (links).
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria