Warum sich Genitalverstümmelung so beharrlich hält
Nach wie vor werden Millionen von Mädchen beschnitten. Vor allem in Afrika hatten Kampagnen dagegen kaum Erfolg. Eine erstaunliche evolutionäre Erklärung könnte bei der Entwicklung neuer Gegenstrategien helfen.
Bristol/Wien – Weltweit sind nach wie vor mehr als 125 Millionen Mädchen und Frauen davon betroffen. Und das, obwohl die internationale Gemeinschaft, die Weltgesundheitsorganisation ebenso wie die Unicef die weibliche Genitalbeschneidung seit vielen Jahren als eine Verletzung der Menschenrechte und der Gesundheit von Mädchen bekämpfen.
Doch insbesondere in afrikanischen Ländern hält sich diese mittelalterlich anmutende Praxis hartnäckig, bei der meist mit Rasierklingen Teile der weiblichen Genitalien unterschiedlich radikal entfernt werden: Die Eingriffe reichen vom Beschneiden der Klitoris bis zum vollständigen Entfernen der Schamlippen, mitunter wird auch die Vagina vernäht.
Eine beharrliche Praxis
Die Genitalverstümmelung ist nach wie vor in einer Reihe westund nordostafrikanischer Staaten weitverbreitet. In Somalia etwa sind 98 Prozent aller erwachsenen Frauen genital verstümmelt, in Guinea sind es 97 Prozent, in Ägypten 91, in Sierra Leone 90 Prozent. Warum dieser Praxis so schwer beizukommen ist, haben die beiden britischen Forscherinnen Janet Howard und Mhari Gibson (Uni Bristol) nun erstmals aus evolutionärer Perspektive untersucht.
Dabei ist die Beharrlichkeit, mit der Beschneidungen durchgeführt werden, gerade aus dieser Perspektive auf den ersten Blick ein Rätsel: Aufgrund der Beschneidungen sterben tausende Mädchen; ihre Fortpflanzungsfähigkeit ist oftmals eingeschränkt.
Eine evolutionäre Erklärung
Also recherchierten die evolutionären Anthropologinnen in fünf westafrikanischen Ländern nach Daten, um womöglich irgendeinen evolutionären „Vorteil“der Beschneidungen zu ent- decken. Bei der Durchsicht von gesundheitlichen und demografischen Daten von mehr als 61.000 westafrikanischen Frauen aus 47 ethnischen Gruppen wurden sie tatsächlich fündig.
Laut ihren Analysen im Fachblatt Nature Ecology & Evolution zeigte sich nämlich, dass Frauen in jenen ethnischen Gruppen, bei denen es eine hohe Rate an weiblichen Beschneidungen gibt, deut- lich mehr überlebende Nachkommen haben als unbeschnittene Frauen. In Ethnien mit einem geringeren Prozentsatz an beschnittenen Frauen verhält es sich dagegen genau umgekehrt.
Das hat natürlich Auswirkungen darauf, welche soziale Stellung beschnittene und unbeschnittene Frauen in den jeweiligen Gruppen haben: In jenen mit hoher Bescheidungsrate wirkt sich eine Beschneidung positiv auf ihr soziales Kapital und ihre Heiratsfähigkeit aus.
Diese evolutionäre Erklärung klinge etwas verstörend, sei aber dennoch „bemerkenswert und völlig neu“, betont die US-Anthropologin Katherine Wander in einem Begleitkommentar. Damit werde nämlich klar, wie sehr evolutionäre und kulturelle Kräfte die Praxis von Verhaltensweisen stützen, die für die Beteiligten eigentlich schädlich sind.
Neue Gegenstrategien
Diese neue evolutionäre Erklärung der weiblichen Beschneidung liefere aber auch neue Ansätze für Gegenstrategien, sind die Anthropologinnen überzeugt. Da Bescheidungen in Ethnien mit hoher Genitalverstümmelungsrate allem Anschein nach mit mehr sozialem Kapital für Frauen einhergingen, könnten Interventionen helfen, die zu besseren sozialen Verbindungen zwischen beschnittenen und unbeschnittenen Frauen führen. Dadurch wiederum könnten die sozialen Kosten verringert werden, sich nicht beschneiden zu lassen – zum Wohle aller.