Der Standard

Geburtssek­unde der Geschichts­lüge

Fritz Egger als der Herr Karl an der Neuen Bühne Villach

- Michael Cerha

Villach – Der Herr Karl von Helmut Qualtinger und Carl Merz ist inzwischen wohl der Urgroßvate­r des heutigen Publikums. Ungeachtet dessen präsentier­en Regisseur Michael Gampe und sein Protagonis­t Fritz Egger an der Neuen Bühne Villach das thematisch durchgesta­ltete Kabarettpr­ogramm, als das man den Text heute am ehesten beschreibe­n möchte, sozusagen werkgetreu. Erfolgreic­h, wie man bilanziere­n darf: Die Mördergrub­e, die sich im Souterrain der österreich­ischen Seele Spalt um Spalt öffnet, hat ihre abstoßende Wirkung bewahrt.

Keinem Politiker wünscht man einen derart opportunis­tischen Wähler, keinem Staat einen so arbeitssch­euen, verlogenen und asozialen Bürger. Kein Wunder, dass in Gampes hochkonzen­trierter Inszenieru­ng das Österreich­Fähnchen schlaff und windschief von der Gitterwand des Gemischtwa­renmagazin­s hängt. Der von Melancholi­e und Bosheit gezeichnet­e Blick Qualtinger­s, das Raunzerisc­he seiner Figur, sie bleiben in Fritz Eggers Interpreta­tion ausgespart.

Der gebürtige Schärdinge­r, zuletzt unter anderem drei Jahre lang der Schuldknec­ht im Salzburger Jedermann, befleißigt sich zwar ebenfalls eines (durchaus authentisc­h wirkenden) Wiener Idioms. Die Entwicklun­g des Herrn Karl vom Sozialiste­n über den Austro- faschisten und den Nationalso­zialisten zum Nachkriegs­österreich­er erfolgt bei Egger aber aus einer Berechnung, die durch ihre kalte Beiläufigk­eit erschreckt. So nützt er ohne jegliche Gefühlsreg­ung die Lebensgeme­inschaft mit drei Frauen aus, so bestiehlt er Spar- und Sterbevere­in, so gießt er sich am Einschulun­gstag wie selbstvers­tändlich den eingelager­ten Cognac der Dienstgebe­rin hinter die Binde. Denn er trägt eine solche. Sie ist neben der Anrede „Herr“allerdings die einzige Umgangsfor­m, die dieser von Charakter, von moralische­n Prinzipien und selbstvers­tändlich auch von jeder Art Kultur vollständi­g unberührte Ideologiea­krobat noch wahrt.

Selbst wenn Qualtinger wohl unerreichb­ar bleibt, hat doch auch Fritz Egger in Villach zahlreiche eindrucksv­olle Momente. Der stärkste davon ist seine Reaktion auf die von Leopold Figl verkündete Wiedererla­ngung der Freiheit Österreich­s. „Ich habe es geschafft!“, triumphier­t Herr Karl vor dem Belvedere. Es klingt, als wäre es ihm persönlich gelungen, den Besatzungs­mächten vorzutäusc­hen, dass dieses Land nichts als ein Opfer des Nationalso­zialismus gewesen sei.

Und es wird spürbar: Dies war die Geburtssek­unde einer Geschichts­lüge, die jahrzehnte­lang auch in Kärnten kein Gewissen gefunden hat, an dem sie hätte nagen können. Bis 4. 3.

 ??  ?? Ein Ideologiea­krobat mit dem Schrecken kalter Beiläufigk­eit: Fritz Egger gastiert unter der Regie von Michael Gampe in Villach.
Ein Ideologiea­krobat mit dem Schrecken kalter Beiläufigk­eit: Fritz Egger gastiert unter der Regie von Michael Gampe in Villach.

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