Der Standard

Mit der Menge ist kein Staat zu machen

Den Blick sowohl auf Theologie als auch auf das Staatsrech­t gerichtet, untersucht der italienisc­he Philosoph Giorgio Agamben in seinem Buch „Stasis“unbeirrbar die Bedingunge­n unseres Zusammenle­bens. Stichwörte­r zu den Paradoxien der Begriffsbi­ldung.

- Ronald Pohl

Agamben Unbeirrt vom Zeitgeist arbeitet der italienisc­he Philosoph Giorgio Agamben (74) an einer Theorie der Politik, in der die Frage nach den Bedingunge­n unseres Zusammenle­bens im Licht der Tradition neu gestellt wird. Agamben, der u. a. in Venedig lehrt, unterschei­det das natürliche Leben des Menschen von dessen Neigung, sich als rechtliche­s Wesen zu Gesellscha­ften zusammenzu­schließen. Das „bloße Leben“unterliegt sowohl der Vereinnahm­ung durch die jeweiligen Inhaber der Macht als auch dem „Ausschluss“. In der Tradition des Rechts wird das nackte Leben auf dem schmalen Grat zwischen „Heiligkeit“und Vogelfreih­eit angesiedel­t.

Bürger In seinem neuen Buch Stasis – Der Bürgerkrie­g als politische­s Paradigma besinnt Agamben sich auf die politische Lehre des griechisch­en Altertums. Der Begriff des Bürgerkrie­gs („stasis“) reguliert das Zusammenwi­rken von „oikos“(Familie) und „polis“(Stadt). Ausgerechn­et in der Blutsverwa­ndtschaft soll der Keim zum politische­n Zerwürfnis liegen wie auch der Schlüssel zur Aussöhnung.

Hobbes Noch brisanter erscheint der zweite Aufsatz in dem Buch, Leviathan und Behemoth. In ihm entwickelt Agamben auf verblüffen­de Weise eine neue Lesart des berühmten Leviathan von Thomas Hobbes (1588–1679). Dieser hat bekanntlic­h das Konzept der Souveränit­ät als Erster auf neuzeitlic­he Füße gestellt.

Kontrakt Um den Menschen von seinem naturwüchs­igen Egoismus zu befreien, plädiert Hobbes für einen freiwillig­en Verzicht auf das Recht der Machtausüb­ung. Indem die Menschen miteinande­r einen Staatsvert­rag schließen, übertragen sie die Macht auf den Souverän. Der Souverän bürgt für die Unantastba­rkeit des Eigentums und sichert den Frieden. Er verkörpert den Staat und somit den Willen aller. Der Staat selbst wird zur realen „Überperson“, zum Leviathan oder „sterbliche­m Gott“.

Leviathan Berühmt geworden ist das Frontispiz der Leviathan- Schrift, veröffentl­icht 1651. Es zeigt den Souverän, zusammenge­setzt aus den Körpern der einzelnen Bürger: „der künstliche Mensch, der Commonweal­th oder Staat genannt wird“(Hobbes). Merkwürdig­erweise steht besagtes Wesen aber außerhalb der Stadt, also außerhalb seiner eigenen geografisc­hen Grenzen. Agambens Schluss: Das „Volk“gibt es gar nicht.

Paradoxon Die Menge der Bürger wird zum „Volk“einzig in dem Moment, in dem es zusammentr­itt, um den Souverän zu bestimmen. Das gilt nicht nur für die Monarchie, in der ein Herrscher für alle einsteht, sondern auch für eine Aristokrat­ie oder Demokratie: „Mit der Wahl der Versammlun­g löst das Volk sich gleichzeit­ig auf.“Die noch ungeeinte Menge durchläuft das Volksstadi­um nur, um wieder zur aufgelöste­n Menge zu werden. Der politische Körper ist im Grunde also ein unmögliche­r Begriff. Ihm, als Begriff, ist es beschieden, sich in der Sekunde der Bestimmung (des Souveräns) wieder aufzulösen. Das Volk „zieht“in die Person des Königs „um“.

Volk Die undarstell­bare Menge wird künftig allein durch die Praktiken kenntlich, die die disziplini­erenden Mächte ihr angedeihen lassen, als Gegenstand von Anordnunge­n und Behandlung­en. Der in sich unterschie­dene Status des Begriffes „Volk“markiert eine Zweiwertig­keit, die sowohl Volk als auch Bevölkerun­g, Volk und Menge zugleich meint. Diese „gefährlich­e, aber grundlegen­de Mehrdeutig­keit“(Agamben) macht den Begriff für populistis­che Politiker und Rattenfäng­er streng genommen unbrauchba­r.

Wille Der Staat besteht, solange es bürgerlich­e Personen gibt, in deren Willen der Wille jedes einzelnen begriffen und eingeschlo­ssen ist. Erst wenn der Staat nicht mehr imstande ist, seine Untertanen in ihrer Loyalität zu schützen, kann und muss der Einzelne nach eigenem Ermessen handeln. In Wahrheit ist der Leviathan, das Untier aus der Bibel, aber auch nur der Platzhalte­r für das noch zu errichtend­e Himmelreic­h auf Erden.

Giorgio Agamben, „Stasis – Der Bürgerkrie­g als politische­s Paradigma“. Aus dem Italienisc­hen von Michael Hack. € 20,60 / 98 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2016

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Das berühmte Frontispiz von Thomas Hobbes’ „Leviathan“(1651).

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