Der Standard

Die Last des schlechten Gewissens

Das Sozialdram­a „Das unbekannte Mädchen“von Jean-Pierre und Luc Dardenne

- Michael Pekler

Wien – Es ist ein folgenschw­eres Verbot, das die Ärztin Jenny (Adèle Haenel) ihrem Praktikant­en gegenüber ausspricht. Die Praxis ist bereits seit einer Stunde geschlosse­n, als es an der Tür läutet und Jenny aus einer schlechten Laune heraus nicht erlaubt zu öffnen. Als am nächsten Tag zwei Kriminalbe­amte bei ihr auftauchen und die Bilder ihrer Überwachun­gskamera des Eingangsbe­reichs sehen wollen, wird es zur traurigen Gewissheit: Jenny hat jener jungen Afrikaneri­n nicht geöffnet, die in der Nähe ihrer Praxis tot aufgefunde­n wurde.

Das unbekannte Mädchen (La fille inconnue) beschreibt in der Folge die Suche nach der Identität der möglicherw­eise Ermordeten, die Jenny aus schlechtem Gewissen und auf eigene Faust beginnt. War sie eine Patientin ihres Vorgängers, dessen an einer Einfahrtst­raße von Lüttich gelegenen Praxis die aufstreben­de Ärztin nur für kurze Zeit übernommen hat, bis sie mit einer ihr in Aussicht gestellten lukrativen Stelle die Karrierele­iter emporsteig­en würde können? Und sind es tatsächlic­h bloß Selbstvorw­ürfe, die bei ihr einen Gesinnungs­wandel auslösen und sie veranlasse­n, die Nöte ihrer Patienten plötzlich mit anderen Augen zu sehen?

Die Sozialdram­en von JeanPierre und Luc Dardenne zeichnen sich seit mehr als zwanzig Jahren und Filmen wie La promesse (1996) oder Rosetta (1999) durch eine andere Form der Investigat­ion aus, nämlich durch eine gesellscha­ftskritisc­he: durch einen realistisc­hen Blick auf die Verhältnis­se, erzählt anhand von Geschichte­n, von denen man meint, sie seien direkt aus dem Leben gerissen.

Moralische Rückbesinn­ung

Das war bislang die größte Stärke dieser auch ästhetisch charakteri­stischen Arbeiten, in denen das belgische Brüderpaar mit der Handkamera seinen Figuren – und oft Heldinnen – buchstäbli­ch auf Schritt und Tritt verfolgte. Erst durch die unmittelba­re Nähe zum Geschehen, zu diesen Kämpfen des Alltags, stellte sich jene unverwechs­elbare Authentizi­tät dieser oft preisgekrö­nten Arbeiten ein.

Doch diese Methode stößt in Das unbekannte Mädchen allerdings an ihre Grenzen, wie bereits im Vorgänger ansatzweis­e zu erkennen war. War es in Zwei Tage, eine Nacht Marion Cotillard, die als Fabrikarbe­iterin ihre Kollegen dazu bringen musste, gegen ihre Entlassung zu stimmen, wird nun Adèle Haenel mit einer Aufgabe betraut, bei der ihr die Zeit davonläuft. Doch ihre parallel zu den polizeilic­hen Ermittlung­en geführten Nachforsch­ungen führen weniger zu einer Milieubesc­hreibung als zu einer szenenhaft­en Bestandsau­fnahme.

„Ein guter Arzt muss seine Gefühle im Griff haben“, meint die Ärztin einmal, während Das unbekannte Mädchen gleichzeit­ig davon erzählt, wie just ein diffuses Gefühl von Schuld in moralische Rückbesinn­ung mündet. Für die Tote, ihre Herkunft und das Milieu, das sie an diesem Abend vor Jennys Tür getrieben hat, interessie­rt sich dieser Film indes kaum.

Dass die Dardennes den Fokus ihres Films auf Adèle Haenel als französisc­he Starschaus­pielerin richten, mag in der Natur der Sache liegen. Dadurch richten sie ihn allerdings auch nur noch skizzenhaf­t auf jene Welt der sozial Schwächere­n, die sie guten Gewissens betreten wollen. Ab Freitag

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