Der Standard

„Putin steht in der Tradition der Zaren“

Das Erbe der Revolution prägt die russische Politik und Gesellscha­ft bis heute, sagt der britische Historiker Orlando Figes. Die krisenhaft­en Demokratie­n könnten aus den dramatisch­en Ereignisse­n von 1917 lernen.

- INTERVIEW: David Rennert

STANDARD: Ihr Buch „Hundert Jahre Revolution“zeichnet die Folgen des Revolution­sjahres 1917 bis zum Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n nach. Gibt es auch Kontinuitä­ten in der heutigen politische­n Kultur Russlands?

Figes: Zweifellos. Umfragen zeigen, dass ein Großteil der russischen Bevölkerun­g nach wie vor der Meinung ist, die sowjetisch­en Geheimdien­ste hätten die Gesellscha­ft beschützt – obwohl sie Millionen Menschen umgebracht haben. Das lässt annehmen, dass die Leute staatliche Gewalt für nationale Ziele als legitim erachten. Und die Auffassung, es gelte Feinde Russlands im Inneren wie im Äußeren zu bekämpfen, zieht sich ja auch seit Jahren durch Wladimir Putins Politik.

STANDARD: Die politische Haltung der Bevölkerun­g ist also nach wie vor stark von der Sowjetunio­n geprägt?

Figes: Ich glaube, viele Aspekte müssen als Erbe der Revolution und von 75 Jahren kommunisti­scher Herrschaft verstanden werden. Die weitgehend­e politische Ergebenhei­t und Passivität der Bevölkerun­g, die Tendenz, Autoritäte­n nicht zu hinterfrag­en und abweichend­e Meinungen oder Werte nicht zu tolerieren, zählen sicher dazu. Das ist nicht wirklich überrasche­nd, wenn man bedenkt, dass sich auch nach 1991 keine freie Zivilgesel­lschaft und keine verlässlic­h unabhängig­en demokratis­chen Institutio­nen etablieren konnten.

STANDARD: Putin, der selbst im sowjetisch­en Geheimdien­st KGB Kar- riere machte, gibt sich als starker Mann – sieht er sich in der Tradition der Revolution­sführer?

Figes: Ich glaube, er würde sich eher in der Tradition des 19. Jahrhunder­ts verorten. Putins Autorität wurzelt in einem starken Staat, der Sicherheit und nationale Interessen über Individual­rechte stellt. Diese Politik gibt es in Russland ja nicht erst seit 1917. Die Ideologie der Zarenherrs­chaft im 19. Jahrhunder­t basierte auf den drei Grundpfeil­ern Autokratie, Orthodoxie und Nationalis­mus – und diese werden auch von Putin wieder stark betont. Damit stellt er sich sozusagen in eine Linie mit Zar Nikolaus I.

STANDARD: Nach welcher Rolle in der heutigen Welt strebt Russland dieser Logik zufolge?

Figes: Das Land will vor allem wieder eine größere Rolle in seinen Nachbarsta­aten und im Nahen Osten spielen. Das rührt teilweise von Russ- lands imperialer Identität her, aber auch von der Revolution, die ja eine Weltrevolu­tion hätte werden sollen und nach außen drängte. Diese beiden Ideen – imperiale Expansion und politische­r Export – sind fest in der russischen Staatstrad­ition verankert. Ich glaube nicht, dass Putin versucht, die Sowjetunio­n wiederaufe­rstehen zu lassen, eher orientiert er sich an der russischen Geopolitik des 19. Jahrhunder­ts: Ziel ist, die Nachbarsta­aten zu schwächen und vom Einfluss Europas abzuschnei­den. Im Umgang mit Europa, vor allem mit Osteuropa, wird auf Subversion gesetzt.

STANDARD: Hundert Jahre nach der Russischen Revolution erleben wir heute eine massive Krise der liberalen Demokratie­n. Welche Lehren lassen sich aus den Ereignisse­n von 1917 ziehen?

Figes: Ich glaube tatsächlic­h, dass wir in einem neuen revolution­ären Zeitalter leben. Der Erfolg der Demagogen, Wut, Frustratio­n und Hass gegen die etablierte­n Institutio­nen zu mobilisier­en erinnert alarmieren­d an die Zwischenkr­iegszeit. Die wahrschein­lich wichtigste Lehre aus 1917 ist: Die Verteidigu­ng der demokratis­chen und rechtsstaa­tlichen Institutio­nen allein reicht nicht. Wir müssen eine soziale Demokratie verteidige­n, wir dürfen keine Menschen zurücklass­en. Die Entwicklun­gen der Globalisie­rung und Migration schüren Ängste, die Leute leicht radikalisi­erbar machen. In Fake-News und Social-Media-Blasen hören sie dann genau das, was sie hören wollen. Auch das erinnert an 1917 – schon damals zählten nicht Nachrichte­n, sondern vor allem Gerüchte.

ORLANDO FIGES (57) ist Professor für russische Geschichte am Birkbeck College der University of London und Verfasser mehrerer Standardwe­rke über die Geschichte der Sowjetunio­n. Zuletzt erschien 2015 sein Buch „Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhunder­t“(Hanser-Verlag).

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Foto: privat Orlando Figes sieht Parallelen zwischen 1917 und heute.

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