„Putin steht in der Tradition der Zaren“
Das Erbe der Revolution prägt die russische Politik und Gesellschaft bis heute, sagt der britische Historiker Orlando Figes. Die krisenhaften Demokratien könnten aus den dramatischen Ereignissen von 1917 lernen.
STANDARD: Ihr Buch „Hundert Jahre Revolution“zeichnet die Folgen des Revolutionsjahres 1917 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion nach. Gibt es auch Kontinuitäten in der heutigen politischen Kultur Russlands?
Figes: Zweifellos. Umfragen zeigen, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung nach wie vor der Meinung ist, die sowjetischen Geheimdienste hätten die Gesellschaft beschützt – obwohl sie Millionen Menschen umgebracht haben. Das lässt annehmen, dass die Leute staatliche Gewalt für nationale Ziele als legitim erachten. Und die Auffassung, es gelte Feinde Russlands im Inneren wie im Äußeren zu bekämpfen, zieht sich ja auch seit Jahren durch Wladimir Putins Politik.
STANDARD: Die politische Haltung der Bevölkerung ist also nach wie vor stark von der Sowjetunion geprägt?
Figes: Ich glaube, viele Aspekte müssen als Erbe der Revolution und von 75 Jahren kommunistischer Herrschaft verstanden werden. Die weitgehende politische Ergebenheit und Passivität der Bevölkerung, die Tendenz, Autoritäten nicht zu hinterfragen und abweichende Meinungen oder Werte nicht zu tolerieren, zählen sicher dazu. Das ist nicht wirklich überraschend, wenn man bedenkt, dass sich auch nach 1991 keine freie Zivilgesellschaft und keine verlässlich unabhängigen demokratischen Institutionen etablieren konnten.
STANDARD: Putin, der selbst im sowjetischen Geheimdienst KGB Kar- riere machte, gibt sich als starker Mann – sieht er sich in der Tradition der Revolutionsführer?
Figes: Ich glaube, er würde sich eher in der Tradition des 19. Jahrhunderts verorten. Putins Autorität wurzelt in einem starken Staat, der Sicherheit und nationale Interessen über Individualrechte stellt. Diese Politik gibt es in Russland ja nicht erst seit 1917. Die Ideologie der Zarenherrschaft im 19. Jahrhundert basierte auf den drei Grundpfeilern Autokratie, Orthodoxie und Nationalismus – und diese werden auch von Putin wieder stark betont. Damit stellt er sich sozusagen in eine Linie mit Zar Nikolaus I.
STANDARD: Nach welcher Rolle in der heutigen Welt strebt Russland dieser Logik zufolge?
Figes: Das Land will vor allem wieder eine größere Rolle in seinen Nachbarstaaten und im Nahen Osten spielen. Das rührt teilweise von Russ- lands imperialer Identität her, aber auch von der Revolution, die ja eine Weltrevolution hätte werden sollen und nach außen drängte. Diese beiden Ideen – imperiale Expansion und politischer Export – sind fest in der russischen Staatstradition verankert. Ich glaube nicht, dass Putin versucht, die Sowjetunion wiederauferstehen zu lassen, eher orientiert er sich an der russischen Geopolitik des 19. Jahrhunderts: Ziel ist, die Nachbarstaaten zu schwächen und vom Einfluss Europas abzuschneiden. Im Umgang mit Europa, vor allem mit Osteuropa, wird auf Subversion gesetzt.
STANDARD: Hundert Jahre nach der Russischen Revolution erleben wir heute eine massive Krise der liberalen Demokratien. Welche Lehren lassen sich aus den Ereignissen von 1917 ziehen?
Figes: Ich glaube tatsächlich, dass wir in einem neuen revolutionären Zeitalter leben. Der Erfolg der Demagogen, Wut, Frustration und Hass gegen die etablierten Institutionen zu mobilisieren erinnert alarmierend an die Zwischenkriegszeit. Die wahrscheinlich wichtigste Lehre aus 1917 ist: Die Verteidigung der demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen allein reicht nicht. Wir müssen eine soziale Demokratie verteidigen, wir dürfen keine Menschen zurücklassen. Die Entwicklungen der Globalisierung und Migration schüren Ängste, die Leute leicht radikalisierbar machen. In Fake-News und Social-Media-Blasen hören sie dann genau das, was sie hören wollen. Auch das erinnert an 1917 – schon damals zählten nicht Nachrichten, sondern vor allem Gerüchte.
ORLANDO FIGES (57) ist Professor für russische Geschichte am Birkbeck College der University of London und Verfasser mehrerer Standardwerke über die Geschichte der Sowjetunion. Zuletzt erschien 2015 sein Buch „Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert“(Hanser-Verlag).