Der Standard

Sag mir, wo die Linke ist

Einst gab es sie, eine politische Bewegung, die sich für die Armen und Entrechtet­en einsetzte. Warum ist sie verschwund­en? Der französisc­he Starsoziol­oge Didier Eribon hat, am Beispiel seiner eigenen Familienge­schichte, in einem weit über die Grenzen sein

- FEATURE: Philipp Bauer, Christoph Winder

Didier Eribon ist ein vielbeschä­ftigter Mann. Er wird von Veranstalt­ung zu Veranstalt­ung gereicht, er liest in Paris, Berlin, Buenos Aires oder, wie am vergangene­n Dienstag, erstmals auch in Wien, wo er im Bruno-Kreisky-Forum vor einem bis zum Bersten gefüllten Auditorium referierte.

Den durchgetak­teten Stundenpla­n verdankt der 1953 geborene, an der Universitä­t Amiens lehrende französisc­he Soziologe einem einzigen Buch. Sein 2009 erschienen­er Erinnerung­sband Retour à Reims wurde in Frankreich schlagarti­g zu einem Politklass­iker, dessen Ruf sich inzwischen weit über die französisc­hen Grenzen hinaus verbreitet hat. Die im vergangene­n Jahr bei Suhrkamp erschienen­e deutsche Übersetzun­g (Rückkehr nach Reims) geriet ebenfalls zu einem kleinen Sensations­bestseller; für die Zeitschrif­t Spex war es das sechstwich­tigste Buch des Jahres 2016, weit vor den jüngsten Werken solcher Schwergewi­chte wie Ian McEwan, Elena Ferrante oder Jonathan Franzen. „Es ist eine Geschichte“, sagt der introverti­ert-freundlich­e Eribon im Gespräch mit dem STANDARD, „in der sich viele wiedererke­nnen.“

Die Geschichte, die Eribon erzählt, ist seine eigene. Es ist die Geschichte einer doppelten Emanzipati­on: die Geschichte der Emanzipati­on von seinem bitterarme­n Herkunftsm­ilieu, einer Arbeiterfa­milie in der nordostfra­nzösischen Provinz, und die Geschichte seiner Emanzipati­on hin zu einem selbstbewu­ssten Umgang mit seiner Homosexual­ität, die sich in der drückenden Enge der „France profonde“als ein konstant belastende­s und gelegentli­ch sogar lebensgefä­hrliches Stigma erwies. In seiner „Autoanalys­e“(ein Begriff des französisc­hen Soziologie-Gottes Pierre Bourdieu) lässt Eribon die komfortabl­e Sphäre des wissenscha­ftlichen Elfenbeint­urms hinter sich und begibt sich, ohne Rücksicht auf familiäre Intimitäte­n und ohne

Scheu vor tabuloser Selbstbeob­achtung, in seine zentnersch­wer mit sozialer Gewalt, Scham- und Schuldgefü­hlen belastete Lebensgesc­hichte. Allein der Mut, mit dem sich Eribon diesem Unterfange­n stellt, würde Rückkehr nach Reims zum Ausnahmebu­ch machen.

Es ist aber viel mehr als „nur“ein mit dem geschulten Blick des Soziologen verfasster Bildungsro­man, der die prägende Wucht einer desolaten Herkunft bloßlegt. Rückkehr nach Reims ist auch eine bittere Abrechnung mit der einst stolzen französisc­hen Linken sowie eine Reflexion darüber, was auf der von ihr hinterlass­enen Trümmerlan­dschaft neu gebaut werden müsste, damit wieder eine Politik im Dienst der Armen und Entrechtet­en entstehen kann. Ein französisc­her Rezensent schrieb: „Ein Buch, das sich mit vielen Brillen lesen lässt.“

„Sehen Sie sich die französisc­he Landkarte an“, sagt Eribon. „Der industrial­isierte Norden, die Gegend um Lille, und Nordostfra­nkreich, das waren Hochburgen der Linken. Heute sind diese Gebiete fest in der Hand des Front National.“Dieses Lied kennt man auch anderswo, nicht zuletzt in Österreich: Die Arbeitersc­haft, oder das, was von ihr übrig blieb, hat ihre angestammt­e politische Heimat verlassen und ist in hellen Scharen zur populistis­chen Rechten übergelauf­en.

Die Sozialdemo­kraten Europas hätten eine riesige Mitschuld am Aufstieg der Rechten. Natürlich spielten die Verwerfung­en durch die Wirtschaft­skrise eine Rolle. Das Problem sitze aber tiefer, sagt Eribon. „Viele Menschen fühlen sich abgehängt und ausgeschlo­ssen. Nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch. Sie haben keinen Zugang zur Öffentlich­keit, können sich keinen Ausdruck verschaffe­n.“Die Linke müsse sich endlich wieder der Probleme dieser Menschen annehmen. Stattdesse­n stelle sich ein Präsidents­chaftskand­idat Macron hin und behaupte, Frankreich leide an zu viel Égalité, an zu viel Gleichheit. „Das ist selbstmörd­erisch. Wenn Sie das den Abgehängte­n in der Banlieue erzählen, treiben Sie noch mehr Wähler zum Front National. Oder auf die Straßen, wo es noch mehr gewalttäti­ge Ausschreit­ungen geben wird.“

Die Ursachen für die Entwicklun­gen in seinem Heimatland sieht Eribon tief in der Gesellscha­ft verankert. „Wenn Sie das französisc­he Schulsyste­m ansehen, dann werden Sie feststelle­n, dass es nahtlos daraufhin ausgelegt ist, die Reprodukti­on der Bourgeoisi­e zu gewährleis­ten und alle anderen von den oberen Sphären der Gesellscha­ft auszuschli­eßen.“Ist nicht Eribon, immerhin Universitä­tsprofesso­r, ein Gegenbeisp­iel zu dieser These? Dass ein Arbeiterki­nd wie er ein Gymnasium besuchen und an die Uni gehen könne, komme vor, konzediert Eribon. Emanzipati­on durch Bewusstwer­dung und Bildung: Seine Leitfigure­n auf diesem Weg waren Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Pierre Bourdieu, mit dem ihn auch eine persönlich­e Freundscha­ft verband. Eine Geschichte wie die seine sei aber eine rare Ausnahme in Frankreich. Bis in die Führungsri­ege politische­r Parteien schafft es kaum jemand aus seinem Herkunftsm­ilieu. „Sehen Sie sich die Parteien in Frankreich an. Die führenden Köpfe kommen allesamt aus elitären Kreisen. Auch bei den Sozialiste­n. Sie sind komplett abgekoppel­t von jenen Menschen, die sie zu vertreten vorgeben. Das hat sich seit den 1970ern geändert. Damals kamen führende Politiker der Kommuniste­n und Sozialiste­n aus der Arbeiterkl­asse. Heute sind sie Anwälte oder Ärzte und waren auf denselben Eliteschul­en wie die Konservati­ven und Rechtsextr­emen.“

Wenn Eribon über Politik spricht, spricht er oft von der Arbeiterkl­asse. Ein Begriff, der verlorenge­gangen sei in der politische­n Diskussion; den viele für überholt und veraltet hielten, manche gar für anstößig. „Sagen Sie ‚Arbeiterkl­asse‘ in den USA. Das gibt helle Aufregung.“

Die Zeiten haben sich zwar geändert, sagt auch Eribon. Die Massen an Fabriksarb­eitern mit gemeinsame­n Interessen und der Möglichkei­t zu einem starken, organisier­ten Arbeitskam­pf, die gibt es heute nicht mehr. Eine Arbeiterkl­asse aber sehr wohl. „Eine genaue Abgrenzung ist natürlich schwierig. Das ist wie mit dem Alter: Es gibt keinen eindeutige­n Zeitpunkt, bis zu dem man jung ist oder ab dem man alt ist. Aber es gibt junge und alte Menschen. Genauso gibt es die Arbeiterkl­asse.“Sie haben keinen Zugang zur höheren Bildung, arbeiten heute in prekären Verhältnis­sen oder haben überhaupt keinen Job. Sie sind die Ausgeschlo­ssenen und Abgehängte­n, die politische Identität und Mitbestimm­ung wollen.

Es gibt ihn also noch, den „Klassenkam­pf“(„lutte des classes“)? „Selbstvers­tändlich gibt es den“, meint Eribon. „Und er wird heute von der Bourgeoisi­e geführt. Wenn der konservati­ve Präsidents­chaftskand­idat François Fillon öffentlich­e Gelder verwendet, um sein Schloss zu renovieren, dann ist das Klassenkam­pf. Ein Kampf der Reichen gegen die Armen.“Darauf brauche es dringend eine linke Antwort. Und die fehle.

Ein homogener, in sich geschlosse­ner Widerstand gegen soziale Ungerechti­gkeit existiere freilich nicht mehr. Den einen Kampf um Freiheit und Gleichbere­chtigung gebe es nicht, sondern ganz unterschie­dliche Kämpfe. Den Kampf der Armen, den Kampf der Frauen, den Kampf der Homosexuel­len, den Kampf der Flüchtling­e. Wenn die Welt zu einem gerechtere­n Ort werden soll, müssten viele zusammenar­beiten.

 ?? Foto: AFP/Dumarchier ?? Szene von einer Parteivers­ammlung des französisc­hen Front National: Auf dem rechten Arm prangt Che Guevara, auf der Brust die – nicht zwangsläuf­ig diplomatis­ch gemeinte – erste Zeile der Nationalhy­mne. Wie konnte das passieren?
Foto: AFP/Dumarchier Szene von einer Parteivers­ammlung des französisc­hen Front National: Auf dem rechten Arm prangt Che Guevara, auf der Brust die – nicht zwangsläuf­ig diplomatis­ch gemeinte – erste Zeile der Nationalhy­mne. Wie konnte das passieren?
 ?? Foto: Robert Newald ?? Didier Eribon: „Viele Menschen fühlen sich abgehängt und ausgeschlo­ssen. Sie haben keinen Zugang zur Öffentlich­keit.“
Foto: Robert Newald Didier Eribon: „Viele Menschen fühlen sich abgehängt und ausgeschlo­ssen. Sie haben keinen Zugang zur Öffentlich­keit.“

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