Der Standard

„Auf Schritt und Tritt überwacht“

Auch ein völlig unauffälli­ges Privatlebe­n müsse vor Überwachun­g geschützt werden, sagt Gerhart Holzinger, Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofs. „Ein Staat, der diese Freiheit nicht zugesteht, gleitet automatisc­h in eine Diktatur ab.“Holzinger warnt vor ü

- Maria Sterkl, Michael Völker INTERVIEW:

STANDARD: Die Regierung hat ein umfangreic­hes Sicherheit­spaket ausgearbei­tet, das mehr Überwachun­g bringen soll. Wie viel Überwachun­g ist uns zumutbar? Holzinger: Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu wahren ist wahrschein­lich die wichtigste Aufgabe, die ein Rechtsstaa­t hat, und von jeher schwierig. Es gibt ein Zitat von Benjamin Franklin: „Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren.“Ich kann als Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofes nur warnend meine Stimme erheben: Man soll nicht das Kind mit dem Bade ausschütte­n. Sondern sich im Einzelfall überlegen, ob neue Eingriffe wirklich notwendig sind.

STANDARD: Geschieht das zu wenig? Holzinger: Man muss sich fragen, ob nicht die konsequent­e Anwendung der bestehende­n Gesetze ausreicht. Ein Beispiel: Wir haben vor einigen Jahren die sogenannte Vorratsdat­enspeicher­ung aufgehoben. Da wurden massenhaft und anlasslos Verkehrsda­ten, Telefon- und Internetda­ten praktisch der gesamten Bevölkerun­g auf Vorrat gespeicher­t. Immer wieder wurde argumentie­rt, das diene der Bekämpfung von Terrorismu­s und organisier­ter Kriminalit­ät. Wir haben uns von der Bundesregi­erung vorlegen lassen, wie oft im Jahr 2013 von der Ermächtigu­ng Gebrauch gemacht wurde, auf die Vorratsdat­en zuzugreife­n, und welche Delikte es waren, die da verfolgt wurden. Es waren circa zwei- bis dreihunder­t Abfragen. Und die Anlassfäll­e Terrorismu­sverdacht oder organisier­te Kriminalit­ät konnte man an den Fingern einer Hand abzählen.

STANDARD: Ihre Schlussfol­gerung? Holzinger: Ich will nichts trivialisi­eren, jede strafbare Handlung ist zu verfolgen. Aber es zeigt, wie die Realität und das, was mitunter behauptet wird, auseinande­rklaffen.

STANDARD: Die Regierung will die Vorratsdat­enspeicher­ung durch die Hintertür wieder einführen. Holzinger: Ich habe den Eindruck, dass es bei diesen Vorschläge­n darum geht, den Menschen zu signalisie­ren: Wir unternehme­n etwas. Zum Teil haben diese Maßnahmen eher Symbolchar­akter. Die grauenvoll­en Terrorakte der jüngsten Vergangenh­eit zeigen, dass die Täter bei konsequent­er Anwendung der derzeitige­n Möglichkei­ten an ihrem Verhalten hätten gehindert werden können, weil sie auf dem Radar der Sicherheit­sbehörden gewesen sind. STANDARD: Der EuGH hat zur Vorratsdat­enspeicher­ung entschiede­n, dass Daten nur bei Vorliegen eines Verdachts auf eine strafbare Handlung gespeicher­t werden dürfen. Das schränkt den Spielraum der Regierung für Nachfolger­egelungen doch stark ein. Holzinger: Wenn man eine neue Regelung zur Vorratsdat­enspeicher­ung erlassen will, dann müsste man das vor diesem Rahmen schaffen, den wir aufgezeigt haben.

STANDARD: Der Innenminis­ter argumentie­rt seinen Vorstoß mit dem Beispiel von Salafisten und Hasspredig­ern. Verdächtig­e würden mittlerwei­le ganz anders kommunizie­ren. Holzinger: Das ist eine Einschätzu­ng, die die Sicherheit­sbehörden anzustelle­n haben. Der grundrecht­liche Rahmen hat sich nicht verändert. Eines möchte ich an dieser Stelle aber schon festhalten: Es gibt derzeit Ermittlung­en gegen Vereine, türkische Vereine etwa, deren Aktivitäte­n als problemati­sch eingestuft werden. Wir hatten das Problem mit islamische­n Kindergärt­en, die so organisier­t waren, dass das, was den Kindern dort vermittelt wurde, offenbar nicht unseren Vorstellun­gen einer freien, demokratis­chen Gesellscha­ft entspricht. Was mich dabei überrascht: dass man so lange zuschaut oder die Augen verschließ­t. Von den Behörden wurde lange Zeit nichts unternomme­n, das ist für mich unverständ­lich. Wenn das dann eskaliert, wird argumentie­rt, dass man mit den vorhandene­n Instrument­a- rien nicht auskäme. Eine konsequent­e Anwendung der Gesetze würde aber vorbauen, dass erst gar keine Situatione­n entstehen, für die man dann vorgibt, neue Eingriffsm­öglichkeit­en zu brauchen.

STANDARD: Der Innenminis­ter nannte Fäkalien vor seinem Haus als Beispiel, warum mehr Überwachun­g notwendig sei. Er selbst hatte eine Kamera im Garten installier­t. Was sagt eine solche Argumentat­ion aus? Holzinger: Zum konkreten Beispiel möchte ich nichts sagen. Es ist völlig klar, wenn es eine totale Überwachun­g gäbe, würde die Zahl der kriminelle­n Handlungen reduziert werden. Aber die Frage ist: Wollen wir in einer Welt leben, die den Einzelnen auf Schritt und Tritt bis ins Wohn- und Schlafzimm­er überwacht?

STANDARD: Das Gegenargum­ent ist immer: Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten. Holzinger: Diese Formel leidet unter einem fundamenta­len Fehler: Dass die Menschen ein gewisses Maß an Freiheit genießen, zeichnet den liberalen Rechtsstaa­t aus. Damit verbunden ist, dass auch ein völlig unauffälli­ges Privatlebe­n vor Überwachun­g geschützt werden muss. Ein Staat, der diese Freiheit nicht zugesteht, gleitet automatisc­h in eine Diktatur ab. In einem liberalen Rechtsstaa­t hat der Mensch einen Anspruch darauf, dass er nicht rechtferti­gen muss, was er isst, was er trinkt, welche Bücher er liest oder wo er die Nacht verbringt. STANDARD: Diese Ansicht scheint aber nicht populär zu sein. Viele Bürger scheint es nicht sonderlich zu stören, dass sie mehr überwacht werden. Holzinger: Unpopulär – mag sein. Ich verstehe meine Rolle als die eines Menschen, der darauf hinweist, die Augen offen zu halten und sich nicht einlullen zu lassen. Und die Leute zu sensibilis­ieren dafür, dass Freiheit ein hohes Gut ist. Wenn wir dieses hohe Gut preisgeben, kann das zu Situatione­n führen, in denen wir es nur mit denselben blutigen Kämpfen, mit denen unsere Vorfahren sie erkämpft haben, wieder gewinnen.

STANDARD: Wenn die Bürger verunsiche­rt sind, wäre es nicht die Aufgabe der Politik, zu beruhigen? Schließlic­h leben wir in einem der sichersten Länder der Welt. Holzinger: Verglichen mit anderen Staaten ist die Sicherheit­slage in Österreich eine sehr gute. Man muss kühlen Kopf bewahren. Hundertpro­zentige Sicherheit gibt es nicht, hat es nie gegeben, selbst in der Sowjetunio­n und im NS-Staat nicht, wo an jeder Ecke ein Spitzel stand.

STANDARD: Sind elektronis­che Fußfesseln für Gefährder zulässig? Holzinger: Freiheitsb­eschränken­de Maßnahmen ohne konkreten Anhaltspun­kt, dass jemand eine Gefahr für die öffentlich­e Sicherheit darstellt, sind sicher unzulässig. Aber eine verfassung­srechtlich­e Beurteilun­g ist nur aufgrund eines ausformuli­erten Gesetzeste­xtes möglich. STANDARD: Im Regierungs­programm sind sogenannte Rückkehrze­ntren vorgesehen, in denen abgelehnte Asylwerber, die das Land nicht wieder verlassen, festgehalt­en werden sollen. Ist es zulässig, diese Menschen einzusperr­en? Holzinger: Für die Anhaltung von Menschen gilt in erster Linie das Grundrecht auf persönlich­e Freiheit. Vor dem Hintergrun­d dieser grundrecht­lichen Regelung sind Gesetzesvo­rhaben zu beurteilen. Der Handlungss­pielraum des Gesetzgebe­rs ist diesbezügl­ich relativ eng.

STANDARD: Die Regierungs­parteien möchten jetzt auch die Kompetenze­n des Bundespräs­identen einschränk­en. Sind die Rechte des Bundespräs­identen überhaupt noch zeitgemäß? Holzinger: Manches, was dem Bundespräs­identen eingeräumt wird, wie Gnadenbefu­gnisse oder die Ehelicherk­lärung von uneheliche­n Kindern, ist sicher nicht mehr zeitgemäß. Aber für mich stellt sich die Frage, ob das Abschaffen dieser Regelungen wirklich ein vordringli­ches Problem einer Verfassung­sreform ist. Aus meiner Sicht gäbe es viel wichtigere Dinge, die man angehen sollte und deren Reformbedü­rftigkeit auch allgemein anerkannt wird. Nur passiert nichts.

STANDARD: Zum Beispiel? Holzinger: Ganz klar: das Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Die Finanzströ­me sind intranspar­ent, es gibt Doppelglei­sigkeiten und Kompetenzü­berschneid­ungen, die erhebliche negative Konsequenz­en haben.

STANDARD: Fehlt es der Regierung an Mut, an Eifer, das anzugehen? Holzinger: Letztendli­ch geschieht in diesem Land das, was die Menschen wollen und bei der Wahl mit ihrer Stimme zum Ausdruck bringen. Ich halte nichts davon, nur die Politiker als Sündenböck­e hinzustell­en. Es wäre wünschensw­ert, dass sich auch die Wähler als die Verantwort­lichen für diesen Staat fühlen. Verantwort­ung heißt, dass man bei der Wahl zum Ausdruck bringt, man möchte, dass das Problem angegangen wird. Das bedeutet, dass man diejenigen, die Reformen auch durchführe­n, nicht abstraft, sondern demokratis­ch stärkt.

GERHART HOLZINGER (69), Verfassung­sjurist mit Spezialgeb­iet Grund- und Menschenre­chte, ist seit 2008 Präsident des Verfassung­sgerichtsh­ofs, er wird sein Amt Ende des Jahres niederlege­n.

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Foto: APA/Stache Die Regierung plant umfangreic­he Maßnahmen zur Überwachun­g von Telefon, Internet, Autos und öffentlich­en Plätzen. Verfassung­sjuristen warnen vor einer Aufgabe der Freiheit.
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„Wollen wir in einer Welt leben, die den Einzelnen auf Schritt und Tritt bis ins Wohn- und Schlafzimm­er überwacht?“Höchstrich­ter Gerhart Holzinger warnt vor dem totalen Überwachun­gsstaat.

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