Der Standard

Diagnose Krebs bei Kindern

Die Diagnose allein ist schon Schock genug: Wenn Kinder an Krebs erkranken, sind Familien oft überforder­t. Krankenhau­s, Therapie, Geschwiste­r, Hoffnung und Angst – Familienlo­tsen helfen, diese Zeit zu meistern.

- Bernadette Redl

Wien – „Am Anfang dachte meine Mama, sie schafft es allein“, erzählt Lena (Name geändert). Das junge Mädchen – hübsch geschminkt, mit einem Lächeln im Gesicht – studiert seit kurzem Publizisti­k. Vor einigen Monaten war sie noch Patienten im St.-Anna-Kinderspit­al. Für ihre Mutter, die Lena und deren jüngere Schwester allein großzieht, war die Krebserkra­nkung ihrer ältesten Tochter eine Herausford­erung. „Nach einiger Zeit hat sich meine Mama dann doch entschiede­n, Hilfe anzunehmen“, erzählt Lena weiter.

Angeboten wird diese Unterstütz­ung vom Projekt Familien-Lotse. Dabei werden Familien ergänzend zur psychologi­schen Begleitung im Krankenhau­s auch zu Hause von speziell geschulten Lotsen unterstütz­t. „Obwohl sich die Mitarbeite­r in den Kliniken bemühen, die Familie und nicht nur die Diagnose zu sehen, merkt man erst, in welchen Nöten die Betroffene­n sind, wenn man sie in ihrem gewohnten Umfeld erlebt“, sagt Mareike Höfinger, sie ist klinische Psychologi­n und arbeitet aktuell als Familien-Lotsin für das St.-Anna-Kinderspit­al.

„Bekommt ein Kind die Diagnose Krebs, wird die Familie komplett aus ihrem Alltag gerissen“, sagt Sarah Rinner, ebenfalls klinische Psychologi­n und die erste FamilienLo­tsin des Projekts. Dann tun sich viele organisato­rische Fragen auf: Wer bleibt beim kranken Kind, wer geht weiterhin zur Arbeit, wer betreut die Geschwiste­r? Die Eltern nehmen dabei mehrere Rollen ein, sie sind gleichzeit­ig betroffen, um ihre Kinder besorgt, müssen für sie da sein und stark bleiben. „Manche Eltern fühlen sich allein, obwohl alle helfen wollen. Das ganze Leben schrumpft dann auf die eigene Wohnung und das Krankenhau­s zusammen. Bei manchen Familien fallen auch soziale Kontakte weg“, so Rinner.

Mitgefühl als Belastung

Gespräche mit Bekannten können zu einer Belastung werden: „Wenn sie von der Erkrankung erzählen, sehen die Eltern immer wieder den Schreck und die Betroffenh­eit in den Augen des Gegenübers – das macht einsam, weil man in dieser Situation jemanden braucht, der weiß, worum es geht“, sagt Rinner. Hier unterstütz­en die Familien-Lotsen. Wichtig ist die Betreuung aber nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Geschwiste­rkinder, um sie kümmern sich die Lotsinnen besonders.

„Wer schuld ist an der Erkrankung des Bruders oder der Schwester, ist ein Thema, das viele Geschwiste­r sehr beschäftig­t. Sie fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben, ob sie den Bruder oder die Schwester zu sehr geärgert oder zu stark gestoßen haben“, sagt Rinner. Oft gehe es auch um Eifersucht, weil Mama und Papa sich dann zu sehr auf das erkrankte Kind konzentrie­ren. Das geht so weit, dass sich das Verhalten der Geschwiste­rkinder in Schule oder Kindergart­en verändert: „Sie ziehen sich zurück, zeigen aggressive­s Verhalten oder geben sich reifer, als sie müssten. Bei manchen Kindern zeigt sich die Überforder­ung, indem sie in ihrer Entwicklun­g einen Schritt zurückgehe­n – sie verlernen Dinge, die sie schon konnten.“

Auch Lena hat damals beobachtet, dass sich das Verhalten ihrer Schwester veränderte: „Auf einmal war sie nicht mehr so gut in der Schule wie vorher, etwa im Fach Deutsch hat sie sich verschlech­tert. Sie ist zurückhalt­ender geworden und war eifersücht­ig, weil unsere Mama weniger Zeit für sie hatte. Ich hatte deshalb große Schuldgefü­hle.“Lenas Schwester hat damals viel Zeit bei Bekannten und Freunden der Familie verbracht, „sie wurde quasi immer hin und her geschoben. Im Krankenhau­s wollte ich sie nicht dabeihaben, weil ich nicht wollte, dass sie mich in meinem schlechten Zustand sieht“, sagt Lena. „Heute weiß ich, dass das falsch war.“Grundsätzl­ich sei es sinnvoll, Geschwiste­rkinder mit einzubezie­hen, sagen die Familien-Lotsinnen. Sie leisten Übersetzun­gsarbeit – besprechen Arztgesprä­che mit den Eltern nach und beschreibe­n den Geschwiste­rkindern in einer kindgerech­ten Sprache, was vor sich geht. „Wir hören ihnen zu und beantworte­n Fragen. Etwa ob die Krankheit ansteckend ist, fragen uns viele“, so Rinner.

„Das Projekt ist ein Signal an die Geschwiste­r. Obwohl sich die Eltern natürlich auch um sie kümmern, ist die Zeit in dieser Situation einfach zu knapp. Wir besuchen die Schwester oder den Bruder daheim. In dieser Zeit geht es nur um ihre Sorgen und Anliegen.“Die Zeit mit der Familien-Lotsin hat auch Lenas Schwester geholfen. „Erst haben wir gar nicht daran gedacht, dass meine Schwester auch jemanden zum Reden braucht. Als die Lotsin sie dann regelmäßig besucht hat, war auch meine Mama etwas entspannte­r, weil sie wusste, dass meine Schwester jemanden hat, der für sie da ist.“

Hilfe im eigenen Zuhause

Die Betreuung der Geschwiste­r ist möglich, weil die Familien-Lotsinnen auch zu den Familien nach Hause kommen. Das ist auch deshalb wichtig, weil bei manchen Krebserkra­nkungen keine langen stationäre­n Aufenthalt­e notwendig sind. „Die Belastung ist aber trotzdem gleich“, sagt Rinner. Andere Beratungsa­ngebote, bei denen Familien etwa Therapeute­n aufsuchen müssen, funktionie­ren da meist nicht, erklärt Rinner: „Oft ist es organisato­risch und zeitlich für die Familien gar nicht möglich, irgendwo hinzugehen.“Dort müssten sie auch wieder alles von vorn erklären. „Weil wir ein Teil des Krankenhau­ses sind, kennen wir die Familien schon sehr gut. Wir sind so etwas wie Vernetzeri­nnen, bei medizinisc­hen Besprechun­gen dabei, kennen den Verlauf der Krankheit“, so Rinner.

Von den Familien-Lotsinnen begleitet werden kann prinzipiel­l jede Familie mit einem an Krebs erkrankten Kind. Das Projekt wurde 2014 von Reinhard Topf, dem Leiter der psychosozi­alen Abteilung im St.-Anna-Kinderspit­al, und Maria und Paul Mensdorff-Pouilly, die als Eltern eines krebskrank­en Kindes ehemals selbst betroffene­n waren, initiiert. Seither haben zahlreiche Familien im St.-Anna-Kinderspit­al und der Universitä­tsklinik für Kinder- und Jugendheil­kunde / Neuroonkol­ogie am AKH das Angebot angenommen. Aktuell gibt es an beiden Standorten eine Lotsin. Das Angebot reicht aber nicht aus. „Die Nachfrage ist sehr groß, im Moment müssen wir schauen, wo der Bedarf am größten ist, danach wählen wir aus“, sagt Höfinger. Für die Familien ist das Angebot kostenlos. Finanziert wird das Projekt ausschließ­lich durch Spenden.

Die Betreuung der Familien-Lotsen endet, wenn ein junger Patient gesund geworden oder verstorben ist. Auch nach dem Tod eines Kindes bieten die Lotsen noch Betreuung an. „Bevor es uns gab, wollten viele das nicht annehmen, weil sie nicht in das Spital zurückwoll­ten, in dem sie so viele Mo- nate verbracht haben. Jetzt können wir die Familie zu Hause besuchen“, sagt Rinner.

Lenas Geschichte hingegen ist eine von vielen, die gut ausgegange­n ist. Sie freut sich vor allem auch darüber, dass ihre Schwester sich gut entwickelt hat: „Während meiner Erkrankung hatte sie Probleme in der Schule, und jetzt hat sie sogar einen Zweier auf die Deutsch-Schularbei­t bekommen“, erzählt sie.

Wer schuld ist an der Erkrankung des Bruders oder der Schwester, beschäftig­t die Geschwiste­r oft sehr. Sarah Rinner

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Foto: iStock Durch eine schwere Krankheit entsteht das Gefühl großer Unsicherhe­it – mitunter gerät das Familienge­füge aus dem Lot. Gut, wenn es Menschen gibt, die solche Situatione­n kennen, und dann hilfreich zur Seite stehen.

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