Der Traum von einem vereinigten Europa
Antipolitik des Geistes: Den fehlgeleiteten Utopien, in die sich Europa 1933 verwandelt hatte, setzte Stefan Zweig seine utopischen Ideen über die geistige Einheit der Welt entgegen. Sie sind bis heute aktuell.
Stefan Zweig sieht in der Vereinigung Europas die einzige Möglichkeit, die Kriegsgefahr abzuwenden und der Konfrontation der imperialistischen Herrschaftssysteme ein Ende zu setzen. Sein Idealismus, seine Ablehnung der „Realpolitik“und seine Forderung, Europa im Namen einer staatenverbindenden Ethik außerhalb der politischen Kategorien seiner Zeit zu betrachten, verleihen seinem Bekenntnis zum Übernationalen eine neue Aktualität.
Die europäische Zusammenführung ist in Zweigs Augen die einzig vernünftige Idee, die im 20. Jahrhundert für den alten Kontinent entworfen wurde. Der Nationalismus ist demgegenüber eine krankhafte Entwicklung, verschärft durch Politiker, die ihre Macht sichern wollen; ein Zerstörungstrieb, der dem Fortgang einer Zivilisation zuwiderläuft.
Stefan Zweig will erneut an den humanistischen Universalismus anknüpfen. Er glaubt nach wie vor an die Möglichkeit des moralischen Fortschritts. Sein kosmopolitischer Ansatz ist der heute sogenannten kapitalistischen Globalisierung entgegengesetzt, denn er ist in seinem Kern geistiger Natur. Den fehlgeleiteten Utopien, in die sich Europa nach 1933 verwandelt hat, setzt Zweig seine utopischen Ideen über die geistige Einheit der Welt entgegen.
Er denkt sich eine „translatio“seines Ideals der geistigen Einheit der Menschheit vom alten auf einen neuen Kontinent, den er in Brasilien entdeckt: „Wenn wir also (...) noch (an) eine Befriedigung und Neuordnung der Welt glauben, so ist es, weil wir Euch mit am Werk wissen, Euch, die Länder der Zukunft. (...) Europa hat das Recht auf die geistige Führung verwirkt.“
Abscheu vor Nationalismus
Das Getöse triumphierender Tyranneien wirkt entmutigend auf Zweig. Er gewinnt die Überzeugung, dass jedes Projekt supranationaler Einigung im Sinne Nietzsches ein antipolitisches Vorhaben bleiben muss: „Es kostet mich keine Mühe, ein ,guter Europäer‘ zu sein, (...) ich, der (ich der) letzte antipolitische Deutsche (bin).“Zweig träumt von einer Antipolitik des Geistes, die an die Tradition der humanistischen res publica literaria von Erasmus anknüpft. Er lehnt die Rolle des engagierten Intellektuellen ab, weil er darin die Unterwerfung des Geistes unter die Politik sieht.
Am 18. März 1935 schreibt er an Romain Rolland, den pazifistischen Freund, der ein Anhänger der UdSSR geworden ist: „Die Politik verblödet uns. Sie ist so ekelhaft, so absurd, dass man sich nur rettet, indem man auf sie spuckt.“Diese Allergie gegen Politik geht bei Zweig mit einer unbeirrbaren Klarsicht einher: Im Frühjahr 1933 ist ihm klar, dass Österreich den Annexionsgelüsten der Nazis nicht widerstehen können wird. Er hasst den Austrofaschismus unter Dollfuß, im Gegensatz zu jenen, die dessen Regime als Bollwerk gegen das Dritte Reich sahen.
Die Abscheu vor dem Nationalismus erklärt auch das Fehlen der ökonomischen Dimension in Stefan Zweigs Schriften zur Einheit Europas und der Welt: Der ökono- mische Imperialismus der europäischen Großmächte hatte den Ersten Weltkrieg verursacht, und seit Kriegsende verstärkten die Wirtschafts- und Währungskrisen überall die Tendenz zum Rückzug in den Nationalismus. In Zeiten des Wohlstands gibt sich die Wirtschaft als feste Basis der Völkerverständigung, in Krisenzeiten aber sind die protektionistischen und nationalistischen Tendenzen sofort wieder da. Ein Binnenmarkt, eine Freihandelszone kann einem gemeinsamen politischen und kulturellen Raum keine Struktur geben. Die nationalen politischen Eliten haben sich im- mer dagegen gewehrt, einer europäischen Organisation oder einer Weltorganisation die Macht zu überlassen. Die supranationalen Institutionen sind zur Machtlosigkeit verurteilt.
Den europäischen Geist, ohne den Europa – wie alle anderen internationalen Organisationen – dazu verurteilt ist, sich den Nationalstaaten unterzuordnen, „gibt es zweifellos, aber er ist noch unterschwellig. Davon haben wir dieselbe Gewissheit wie der Astronom, der in seinem Fernglas ein Gestirn leuchten sieht, dessen Existenz ihm seine Rechnungen offenbarten. Obwohl der europäi- sche Geist noch nicht in Erscheinung getreten ist, wissen wir mit mathematischer Sicherheit, dass er existiert“. Dies erklärte Stefan Zweig im Juli 1936.
Achtzig Jahre später lässt sich das flackernde Gestirn des europäischen Geistes auch mit dem stärksten Teleskop nur mit Mühe erkennen, und man sorgt sich wegen der unaufhaltsamen Schwächung der Uno. Aus dem Französischen von Isis von Plato
JACQUES LE RIDER ist Professor für den Fachbereich Geschichte und Philologie an der Pariser École Pratique des Hautes Études.