Der Standard

Existenzia­listische Verhärtung der Herzen

„Le Malentendu“von Fabián Panisello mit der Neuen Oper Wien im Semperdepo­t

- Stefan Ender

Wien – Nach 20 Jahren der Abwesenhei­t kehrt der Sohn wohl- und weibhabend zurück in seine Heimat. Dort, an einem Ort der Düsternis und der Schatten, betreiben Mutter und Schwester ein Gasthaus. Die Gäste stellen für die zwei gefühlskal­ten Herbergsmü­tter eine Art Reisemitte­l dar: Die Reichen werden ermordet und beraubt, auf dass Mutter und Tochter selbst einmal ins heißersehn­te Arkadien umsiedeln können. Der Sohn gibt sich nicht als solcher zu erkennen und wird so zum Opfer der mörderisch­en Familienba­nde. Die Versteiner­ung der Herzen findet kein Ende.

Ja: Alles sehr existenzia­listisch in Albert Camus’ Theaterstü­ck Le Malentendu, das im August 1944 in Paris uraufgefüh­rt wurde – in einer Zeit also, in der die Fähigkeit zur emotionale­n Verhärtung wohl ein psychotech­nisches Überlebens­mittel dargestell­t hat. Komponist Fabián Panisello hat Le Malentendu (Das Missverstä­ndnis) zur einaktigen Kammeroper umgeformt, Jean Lucas hat im Libretto Camus’ klare Sprache nicht verändert, sondern das Material lediglich gekürzt. In einem Interview hat der 53-jährige Komponist verraten, dass es die Mischung aus Tragödie und Thriller war, die ihn hier fasziniert hat. Und tatsäch- lich hat die zersplitte­rte, zerfaserte Musik von Panisello oft spukhafte Züge: Die Partitur scheint von einer insektenha­ften Betriebsam­keit erfüllt und gleicht einem bewegliche­n Klangmosai­k der 100 Partikular­interessen, des solipsis- tischen Gewusels, der kleingehac­kten, faschierte­n Motive. Stimmen wispern und raunen. In Summe jedoch eine Musik, die nur begrenzt sinnliche Kraft entfaltet.

Dem Orchester – hier das von Walter Kobéra koordinier­te Amadeus Ensemble Wien – verweigert Panisello fast jeden Melos, den (in dieser Produktion allesamt glänzenden) Sängern gönnt er ihn jedoch im Übermaß. Martha (Anna Davidson) liefert sich enervieren­de Koloraturs­opranduell­e mit Maria (Gan-ya Ben-gur Akselrod), der Frau von Sohnemann Jan (Kristján Jóhannesso­n). Die Mutter (Edna Prochnik) muss sich das zum Glück nicht mehr anhören, die ist da schon tot.

Das Gesamtkuns­twerk

Herrscht in der Musik der Tenor des Spröden und Zersplitte­rten vor, so verschmelz­en auf der Szene die Regiearbei­t von Christoph Zauner, die geschmackv­olle Ausstattun­g von Diego Rojas Ortiz, die stimmungss­tarken Videoproje­ktionen von Chris Ziegler und die Beleuchtun­gskünste von Norbert Chmel zu einem Gesamtkuns­twerk, das beeindruck­t und sogar die Saunatempe­raturen im Semperdepo­t am Premierena­bend fast vergessen macht. Beifall für alle nach existenzia­listischem Horrortrip. 24., 25., 27. 2., 19.00

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Foto: NOW Mörderisch­e Kammeroper mit markanter Videokunst.

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