Der Standard

„Pressefrei­heit in der Türkei ist Abenteuer“

Druck auf Medienmita­rbeiter steigt, Auslandsjo­urnalisten verhaftet und diffamiert

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Wien – Seit mehr als einer Woche steht der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel unter Polizeigew­ahrsam. Die Polizei wirft ihm Datenmissb­rauch, Terrorprop­aganda und Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g vor. Die Festnahme wurde wie berichtet inzwischen ausgeweite­t.

„Die Regierung erhöht den Druck auf Medien“, interpreti­ert die türkische BBC-Journalist­in Zeynep Erdim die Aktion bei einer Veranstalt­ung von Internatio­nal Press Institut (IPI) und Presseclub Concordia. Yücel arbeitet seit Jahren als Korrespond­ent für Die Welt, hatte sich selbst der Polizei gestellt. „Pressefrei­heit ist in der Türkei ein Abenteuer“, sagt Fikret Ilkiz. Der Medienanwa­lt und frühere Cumhurriye­t- Chefredakt­eur erklärt, türkische Journalist­en würden gezielt unter Generalver­dacht genommen. Verhaftet würden sie nicht aufgrund ihrer Tätigkeit, sondern wegen des Vorwurfs „anderer Verbrechen“.

153 Journalist­en sitzen derzeit in der Türkei in Gefängniss­en. Er- dim vermutet hinter den Festnahmen ein hierarchis­ches System: „Zuerst ging es gegen die Freelancer im Land.“Um arbeiten zu dürfen, benötigen nicht fixangeste­llte Medienarbe­iter eine von der Regierung ausgestell­te Presseausw­eise, die Reisefreih­eit garantiert. In diesem Jahr hätten die Behörden die Ausgaben drastisch reduziert, sagt Erdim.

Mit vorgehalte­ner Waffe

„Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Presseausw­eis“, entgegnet Fehim Isik. Der kurdische Journalist saß 1990 und 1991 im Gefängnis, danach verließ er die Türkei, um in Syrien, Iran und Irak zu arbeiten. 1995 kehrte er zurück. 2016 wurde er gezwungen, das Land zu verlassen.

Er erzählt von tagtäglich­en Bedrohunge­n, Verhaftung­en, aber auch eigenen Waffen, nämlich soziale Medien: „Einer unserer Kollegen wurde mit vorgehalte­ner Waffe verhaftet.“

Hochrangig­e Minister würden in aller Öffentlich­keit Auslandsjo­urnalisten als Spione diffamiere­n, sagt Erdim.

Yücel ist nicht der einzige Auslandsjo­urnalist, der den Druck der Regierung bereits zu spüren bekam. Erdim erinnert an den amerikanis­chen Wall Street JournalRep­orter Dion Nissenbaum, der vor mehr als einem Jahr ebenfalls festgenomm­en wurde. Die Polizei verweigert­e Nissenbaum jeglichen Kontakt zu seiner Familie oder Anwälten. Nach zweieinhal­b Tagen kam er frei.

„Nicht absehbar“seien die Folgen der Verfassung­sreform, sagt Mehves Evin, Journalist­in der Onlineplat­tform www.diken.com.tr. Die türkische Bevölkerun­g stimmt am 16. April ab, ob sie ein Präsidials­ystem ohne Parlament befürworte­t. Geht die Reform durch, rechnet Evin mit verstärkte­r Auswanderu­ng: „Die EU sollte sich darüber Gedanken machen.“

Schon jetzt seien die ökonomisch­en Bedingunge­n für Journalist­en „sehr schlecht“. Tausende haben in den vergangene­n Jahren ihren Arbeitspla­tz verloren, sind ohne Einkommen, sagt Evin.

Was tun? Freelancer beschäftig­en, schlägt Evin einen Beitrag vor, den europäisch­e Medien leisten sollten. „Und Solidaritä­t. Wir müssen den Menschen klarmachen, dass Journalism­us kein Verbrechen ist.“Auch Kollegen ihrer eigenen Zunft: „Einige kooperiere­n eng mit der Regierung.“Medienanwa­lt Ilkiz: „Unser vereinter Kampf geht weiter.“(prie) pderStanda­rd. at/Pressefrei­heit

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Foto: IPI Unter #FreeTurkey­Journalist­s ruft IPI zur Hilfe auf.

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