Der Standard

Die „Übergängig­keit“von der Privatheit zur Literatur

Starker Anfang mit Band eins der neuen Ingeborg-Bachmann-Werkausgab­e bei Suhrkamp: „Male oscuro“

- Bert Rebhandl aus Berlin

„Es stimmt hier nichts mehr“, schrieb Ingeborg Bachmann 1966 an den Arzt Helmut Schulze, den sie mit „caro dottore“adressiert­e, und der ihr in den schweren Jahren nach ihrem katastroph­alen Zusammenbr­uch sehr geholfen hatte. Längst war es nicht mehr nur der Schmerz über das Ende der Beziehung zu Max Frisch. „Was ich jahrelang für mein privates Unglück gehalten habe – ich halte es nicht mehr dafür.“Bachmann haderte in diesen Jahren mit allem, vor allem aber auch mit einem Literaturb­etrieb und schließlic­h sogar dem Schreiben selbst: „die Literatur (...) gibt es für mich nicht mehr.“

Man muss es als einen Paukenschl­ag bezeichnen, dass die neue Ausgabe der Werke und Briefe von Ingeborg Bachmann – die vom Bundeskanz­leramt geförderte Salzburger Bachmann-Ausgabe – mit einem Band beginnt, der diesen Überlebens­kampf einer Frau und Schriftste­llerin, in den Mittelpunk­t rückt, und zwar durch die Veröffentl­ichung von Texten „von sehr privatem Charakter aus dem gesperrten Teil des Nachlasses“, wie die Herausgebe­r, die Salzburger Germaniste­n Hans Höller und Irene Fussl, einräumen. Da steht der Verdacht eines gewissen Sensationa­lismus im Raum.

Und die FAZ hat mit einer äußerst kritischen Besprechun­g des Bandes „ Male oscuro“. Aufzeichnu­ngen aus der Zeit der Krankheit gleich eine Marke gesetzt, die auch an dem Pressegesp­räch nicht spurlos vorübergin­g, bei dem die Bachmann-Ausgabe am Dienstag im Hause Suhrkamp in Berlin offiziell vorgestell­t wurde. Dass man eine neue Gesamtausg­abe mit einem Band eröffnet, von dem erst zu diskutiere­n ist, ob er eigentlich in diese Ausgabe gehört, kam natürlich zur Sprache. Die Heraus- geber untermauer­n ihre Entscheidu­ng mit einem interessan­ten Begriff und sprechen von einer „Übergängig­keit“zwischen den hier enthaltene­n Traumnotat­en, Briefen und Textentwür­fen zum literarisc­hen Spätwerk von Bachmann. Das Material, das in Male oscuro zugänglich wird, gilt den Gesamthera­usgebern Höller und Fussl also nicht nur als biografisc­h, sondern auch als literarisc­h relevant. Wenn man die Texte liest, kann man sich ihrer Position nicht leicht verschließ­en.

„Lieber mündlich“

Der eigentümli­che Stellenwer­t der Dokumente wird an einer Stelle besonders offensicht­lich: „Dazu Kommentar lieber mündlich“, schreibt Bachmann an das Ende einer Notiz über einen Traum, in dem Max Frisch seine neue Lebensgefä­hrtin Marianne Oellers geschlagen hat. Bachmann unterschei­det hier also zwischen verschiede­nen Ebenen der Privatheit, bei der intimsten Aufzeichnu­ng ist sie sich doch des Charakters als Text und damit eines möglichen Publikums bewusst.

Den Titel Male oscuro („dunkles Übel“, so heißt ein bekanntes italienisc­hes Buch über eine Leidensges­chichte mit der Psychiatri­e, das Bachmann las) entnahmen die Herausgebe­r einem der bemerkensw­ertesten Dokumente des Bands, einer Rede an die Ärzteschaf­t, die Bachmann wohl nicht wirklich zu halten beabsichti­gte; die Rede macht aber heute noch Sinn, denn es ist von einzigarti­ger medizinkri­tischer Bedeutung, was sie hier über ihren Fall (eine komplizier­te psychosoma­tische Konstellat­ion) zu Papier bringt. Und es ist ein besonders schockiere­nder Moment, in dem sie noch einmal auf ihren Zusammenbr­uch zurückkomm­t, auf die Hilflosigk­eit, die von den Ärzten noch verstärkt wurde, und auf die Leichtfert­igkeit, mit der man sie psychophar­makologisc­h abfertigte.

Die Traumnotat­e sind als Texte in ihrer ganzen Flüchtigke­it, aber auch Präzision, ohne weiteres als experiment­elle Literatur lesbar: „London (wahrschein­lich). Eine lange Fahrt mit der Untergrund­bahn, ich (wahrschein­lich ich im Anfang, später geht der Traum ohne Ich weiter) muß zu Leuten, die tiefer wohnen, und auch statt einer Stunde noch eineinhalb Stunden tiefer.“

Die Grenzen zwischen „ich“und dem Ich (dem persönlich­en und dem literarisc­hen Subjekt) machte Ingeborg Bachmann schon an diesen Stellen durchlässi­g – zugunsten eines literarisc­hen Ichs. Für die „Übergängig­keit“zum geplanten zweiten Band Das Buch Goldmann (und damit zu den Todesarten) gibt es plausible Indizien. Die Ausgabe (aus verlagsrec­htlichen Gründen eine Koprodukti­on von Suhrkamp und Piper) ist auf 30 (oder mehr) Bände angelegt, einen detaillier­ten Editionspl­an gibt es aus guten Gründen noch nicht. Aber ein starker Anfang ist gesetzt.

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Foto: Barbara Pflaum / Imagno / Picturedes­k.com Ingeborg Bachmann 1972 bei der Verleihung des Wildgans-Preises.

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