Der Standard

Die Migrations­krise ist nicht vorbei

Vor genau einem Jahr wurde auf der Wiener Westbalkan­konferenz die Politik des „Durchwinke­ns“beendet. Das war ein erster Schritt. Wenn Asylpoliti­k gemacht werden soll, müssen viele weitere folgen.

- Sebastian Kurz Manfred Weber

In den letzten beiden Jahren sah sich Europa mit einer bisher beispiello­sen Migrations­welle aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika konfrontie­rt, die Europa wie kein anderes Thema beschäftig­t hat. Die ab Sommer 2015 immer schneller werdenden Migrations­ströme und der Kontrollve­rlust der staatliche­n Behörden haben in weiten Teilen unserer Gesellscha­ften tiefe Beunruhigu­ng ausgelöst, die nach wie vor spürbar ist. Ein zu lange praktizier­tes „Durchwinke­n“über die Balkanrout­e hatte einen schwer und nur langsam wiedergutz­umachenden Vertrauens­verlust unse- rer Bürger in die Problemlös­ungsfähigk­eit der Politik zur Folge.

In enger Kooperatio­n mit den Westbalkan­staaten und hier insbesonde­re mit Mazedonien und Serbien wurde auf österreich­isches Betreiben hin mit der Wiener Westbalkan­konferenz am 24. Februar 2016 diese Politik des „Durchwinke­ns“beendet und zugleich ein wichtiges Signal in die Herkunfts- und Transitlän­der gesandt. Mit der weitgehend­en Schließung der Westbalkan­route ist es gelungen, den ersten entscheide­nden Schritt zur Entlastung der am meisten betroffene­n Aufnahmest­aaten zu setzen.

Zusammen mit dem später vereinbart­en EUTürkei-Abkommen konnten die Migrations­ströme massiv reduziert werden. Die Zahlen bestätigen die unbestritt­ene Effektivit­ät: Die irreguläre­n Ankünfte in Griechenla­nd sanken in den letzten vier Monaten 2016 um 98 Prozent gegenüber dem Vergleichs­zeitraum. Zuletzt wurden im Dezember 2016 nur mehr rund 1150 solche Ankünfte gezählt, während es ein Jahr zuvor noch über 109.000 waren. Heute kommen über die Balkanrout­e in vier Monaten im Schnitt so viele wie 2015 an zwei Tagen.

Es braucht für eine nachhaltig­e Lösung der Migrations­thematik ein entschloss­enes und koordinier­tes Vorgehen Europas und eine enge Kooperatio­n mit unseren Nachbarn wie etwa der Türkei. Allerdings darf sich Europa keinesfall­s – vor allem auch angesichts der gegenwärti­gen Entwicklun­gen in der Türkei – in eine Abhängigke­it gegenüber Drittstaat­en begeben. Es braucht eine gesamteuro­päische Kraftanstr­engung, um zukunftsfä­hige Lösungsans­ätze zu entwickeln und rigoros durchzuset­zen.

Die Schließung der Westbalkan­route war ein bedeutende­r Etappenerf­olg. Dies wird aber auf Dauer nicht ausreichen. So hat etwa der von Schleppern und Menschenhä­ndlern angetriebe­ne Zuzug über die lebensgefä­hrliche Mittelmeer­route im Jahr 2016 mit rund 181.000 Ankünften in Italien – vor allem aus Afrika – wieder massiv zugenommen. In Anbetracht des rapiden Bevölkerun­gswachstum­s zahlreiche­r afrikanisc­her Staaten ist das gewiss kein Grund, von einer Entspannun­g zu sprechen.

Sechs Punkte

Wir fordern deshalb:

Erstens: Der effiziente Schutz der Q EU-Außengrenz­en bleibt Voraussetz­ung für eine EU ohne innere Grenzen.

Zweitens: Dem Sterben im MittelQ meer muss ein für alle Mal ein Ende gesetzt werden.

Drittens: Die Politik des „WeiterQ transports“nach Mitteleuro­pa muss gleichzeit­ig beendet werden. Derzeit erledigt Europa unfreiwill­ig die Arbeit der Schlepper, indem es nach der Rettung von nicht hochseetau­glichen, überfüllte­n Booten vor der Küste Libyens Migranten nach Europa weitertran­sportiert.

Viertens: Es darf nicht mehr kriQ minellen Schleppero­rganisatio­nen überlassen bleiben, wer es nach Europa schafft und wer nicht.

Fünftens: Es braucht mehr Hilfe Q vor Ort und eine verbessert­e Kooperatio­n mit Herkunfts- und Transitlän­dern im Bereich der Rücküberna­hme – durch Anreize, wenn notwendig auch negative Anreize.

Sechstens: Das europäisch­e AsylQ system muss reformiert und in Richtung begrenzte Flüchtling­skontingen­te über Resettleme­ntProgramm­e (mit Sicherheit­schecks vor der Einreise) weiterentw­ickelt werden.

Wir wollen keine Abschottun­g Europas. Im Gegenteil: Die Überlastun­g des Asylsystem­s mit Men- schen auf der Suche nach einem besseren Leben benachteil­igt jene, die tatsächlic­he Fluchtgrün­de im Sinne der Genfer Flüchtling­skonventio­n haben. Die nun oftmals überlastet­en Sozial- und Integratio­nssysteme führen zudem bei vielen der Angekommen­en zu Enttäuschu­ng und Frustratio­n.

Flüchtling­en muss – unter Berücksich­tigung der Aufnahmeka­pazitäten unserer Gesellscha­ft – auf effiziente­rem Wege geholfen werden. Zugleich muss Europa eine selbstbest­immte Asylpoliti­k auf die Beine stellen, mit der illegale Migration besser bekämpft wird. Nur so können wir uns die große Errungensc­haft des nach innen grenzenlos­en Europas bewahren und weitergest­alten.

SEBASTIANK­URZ( Jg. 1986) ist Bundesmini­ster für äußere Angelegenh­eiten und Integratio­n der Republik Österreich. MANFRED WEBER (Jg. 1972) ist Fraktionsv­orsitzende­r der Europäisch­en Volksparte­i im Europäisch­en Parlament.

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Türl mit Seitenteil­en: Am Grenzüberg­ang Spielberg stauten sich im Herbst 2015 über die Balkanrout­e kommende Flüchtling­e.
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Foto: APA, AFP Sebastian Kurz und Manfred Weber: ein Etappenerf­olg.
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