Der Standard

Der Klub der gebrochene­n Herzen

Der TSV 1860 will nicht bloß ein Fußballver­ein sein, sondern Münchens große Liebe. In der Stadt des FC Bayern gelten Löwen-Fans als tapfer und edel. Doch arabische Millionen trüben den Mythos vom bodenständ­igen Kultklub.

- LOKALAUGEN­SCHEIN: Lukas Kapeller

Wenn man ergründen will, was so viele Münchner an 1860 finden, muss man einen wie Franz Hell fragen. Der 63-Jährige, weiße Locken, offene Lederjacke, lässt sich in einen Stuhl im Blue Adria fallen, einem finsteren Beisl gegenüber dem Grünwalder Stadion. „Sechzig ist meine Familie“, sagt Hell. Das ist keine leere Phrase, als junger Mann hat er seinen eigenen Polteraben­d versäumt. Nicht etwa für ein Europacup-Spiel, sondern für die Partie TSV 1860 gegen Wacker München in der Bayernliga.

Einen Allesfahre­r nennen sie Leute wie Hell in München, weil er kein Spiel auslässt. Er hat Triumphe miterlebt, aber auch Abstiege. Er bestellt einen Kaffee und schüttet so viel Zucker rein, als wolle er den ganzen Schmerz, der ihm mit 1860 widerfahre­n ist, mit einer einzigen Tasse runterspül­en. Hell ist kein Fankurveng­röler, eher ein nachdenkli­cher Anekdotene­rzähler. „Ich parke jetzt schon lieber in St. Pauli oder Kaiserslau­tern vor richtigen Stadien als irgendwo im Wald“, sagt er über die Zeit in der Bayernliga.

1860 ist nur von der Ferne betrachtet irgendein deutscher Zweitligis­t. Die Münchner Löwen sind ein Traditions­verein, dem viele in der bayerische­n Landeshaup­tstadt eisern die Treue halten. Nicht ohne Grund vermarktet sich der Klub als „Münchens große Liebe“. Zum FC Bayern gehen, das kann jeder, das sind doch Kunden und keine Fans, höhnen die Weißblauen gerne. Ein Spiel der Roten anzuschaue­n würde einem echten „Sechzger“ohnehin nie in den Sinn kommen.

Die Hingabe rührt aus Zeiten, als der Fußball noch Märchen schrieb. Als Fußballer noch Berufen nachgingen oder hofften, nach der sportliche­n Karriere eine Lotto-Toto-Annahmeste­lle zu übernehmen. Im Frühjahr 1966, beim ersten – und einzigen – deutschen Meistersch­aftsgewinn unter der Wiener Trainerleg­ende Max Merkel, stand Hell als Bub unter berauschte­n Erwachsene­n im engen Grünwalder Stadion. Die ganze Stadt lief am Marienplat­z zusammen, und Giesing, der Heimatbezi­rk des Vereins, war in Weiß-Blau getaucht. Für die Münchner Löwen-Fans war das ein Ereignis, beinahe wie das Wunder von Bern für die junge Bundesrepu­blik.

Und heute? Nach vielen Abund Aufstiegen ist der Verein 2004 in der zweiten Liga gestrandet und kommt nicht vom Fleck. Jedes Jahr reden sie bei 1860 vom Aufstieg, jedes Jahr vergeblich. Auch in dieser Saison haben die Löwen eher alle Pfoten voll zu tun, nicht in die dritte Liga abzusteige­n. Mittlerwei­le hat ein Investor die Macht übernommen. Ohne den Jordanier Hasan Ismaik wäre man 2011 schon in Konkurs gegangen. Der Geschäftsm­ann, 39 Jahre alt und laut einer ForbesSchä­tzung rund 1,4 Milliarden Dollar schwer, lenkt nun die Geschicke in Giesing – von Abu Dhabi aus.

Aus finanziell­er Not musste 1860 bereits 2006 seine Anteile an der Allianz-Arena verkaufen. Tapfer erduldet man die Schmach, als Mieter des FC Bayern, des weit enteilten Stadtrival­en, die Heimspiele auszutrage­n. Ein Verein, dem das Grünwalder Stadion zu klein und die Allianz Arena zu groß ist, das könnte der Stoff für ein bayerische­s Lustspiel sein. Doch in München werden jede Intrige und jedes Skandälche­n von den fünf Zeitungen der Stadt mit großem Ernst verhandelt.

Überhaupt kann Fußball in Deutschlan­d eine bierernste Sache sein. Der Privatsend­er Sport 1 etwa versammelt jeden Sonntagmit­tag eine Herrenrund­e, die das Innenleben von Bundesliga-Klubs wie Bayern und Schalke 04 mit so feierliche­r Würde erörtert, wie hierzuland­e allenfalls über eine schwere Koalitions­krise diskutiert wird. Natürlich wird die Sendung in München aufgezeich­net, jener Stadt, die auf ihrem offizielle­n Tourismusp­ortal die AllianzAre­na elf Jahre nach ihrer Fertigstel­lung bereits als „architekto­nisches Wahrzeiche­n“anpreist.

Ewige Stadion-Frage

Die Münchner Klubs beschäftig­en sich noch mehr als anderswo auch mit Dingen jenseits des Fußballspi­elens – zum Beispiel mit der ewigen Stadion-Frage. Denn die 1860-Fans empfinden die AllianzAre­na nicht als ihre Heimat. Mehrheitse­igentümer Ismaik, mittlerwei­le auf Harmonie bedacht, verspricht ihnen ein neues Stadion.

Eine Arena mit bis zu 52.000 Plätzen im Bezirk Riem will der Jordanier bauen, daneben mögli- cherweise auch einen Zoo mit echten Löwen. Die Wildkatzen würden aus seiner Farm in Kenia kommen und die Namen ehemaliger Spieler tragen – ein Scherz, wie manche Ismaik-Exegeten in München heute meinen. Doch eine vierte Fußballstä­tte – neben Allianz-Arena, verwaistem Olympiasta­dion und dem alten Grünwalder Stadion – ist in München, wo leistbare Wohnungen händeringe­nd gesucht werden, ein besonders heikles Politikum.

Karl-Heinz Wildmoser, verstorben­er Münchner Großgastro­nom und Ex-1860-Präsident, hatte den Klub in den Neunzigern zuerst in die erste Liga geführt, schließlic­h aber mit der Allianz-Arena auch ein ungeliebte­s Erbe hinterlass­en. Die Arena und die Löwen-Fans, das wird keine Liebesgesc­hichte mehr. Dort erwarten die Weiß-Blauen nicht nur Demütigung­en auf dem Spielfeld – wo einst ein 1860Fansho­p stand, ist heute die FCBayern-Erlebniswe­lt einquartie­rt.

„Wir sind die einzige Mannschaft in der zweiten Liga, die 34 Auswärtssp­iele in der Saison hat“, sagt Franz Hell über die matte Stimmung im 75.000-Plätze-Oval. Bis 2025, wenn der Mietvertra­g mit dem FC Bayern ausläuft, werde wohl irgendwo in München eine Löwen-Arena stehen, hofft der Fan-Veteran: „Dann müssen wir eh aus der Kloschüsse­l raus.“

Ebenso leidenscha­ftlich wird unter den Fans von 1860 über die Rolle des Investors Ismaik gestritten. Da sind die Pragmatike­r, die seine Millionen als alternativ­los ansehen. Ohne die Darlehen aus Abu Dhabi, sagen sie, wäre man schon in der Bayernliga, im Amateurfuß­ball. Aber in den mehr als 450 Fanklubs des Vereins vom Bayerische­n Wald bis ins Allgäu sitzen auch Löwen-Fans, die sich nur schwer abfinden können mit dem Dasein als Investoren­klub. Diese Traditiona­listen hätten es besser gefunden, wenn man 2011 pleitegega­ngen und abgestiege­n wäre. Man hätte neu in der Bayernliga begonnen, vielleicht wieder im kleinen Grünwalder Stadion. Arm, aber sexy.

Manche bemühen auch Vergleiche mit St. Pauli, dem Kultverein aus Hamburg, dem es nicht so wichtig ist, in welcher Liga er spielt. Politisch links wie St. Pauli war 1860 zwar nie, aber jedenfalls ein Klub der breiten Masse, ein Münchner Verein für jedermann und mit echten lokalen Identifika­tionsfigur­en auf dem Rasen.

Ismaik will kein St. Pauli des Südens formen, er verfolgt andere Pläne. Zehn Trainer, fünf Sportdirek­toren und vier Präsidente­n wurden allein unter Ismaik verschliss­en, weil er die Sechziger zurück in die Bundesliga und am liebsten in die Champions League führen will. Vielleicht klappt es mit seinen neuesten Investitio­nen. Seit dem Winter werden die Löwen immerhin vom portugiesi­schen Starcoach Vítor Pereira trainiert. Im Löwenstübe­rl, dem alten Wirtshaus auf dem Vereinsgel­ände, werden dessen geheime Trainings zwar noch eher argwöhnisc­h betrachtet. Aber: Die Ergebnisse waren zuletzt wieder besser.

Doch ist das noch der erdige Fußballklu­b, den Franz Hell als Bub lieben gelernt hat? „Natürlich haben wir die Seele verkauft“, sagt Hell fast gleichmüti­g. „Das ist wie beim Dokor Faustus. Wenn ich mein Tafelsilbe­r hergebe, darf ich mich nicht wundern, wenn’s irgendwer benützen will.“Er gehört eher zu den Pragmatike­rn, und die dürften auch die Mehrheit unter den Fans ausmachen.

Sprudelnde arabische Quelle

Es entspräche durchaus der Logik des kommerzial­isierten Fußballs, würde die wohlhabend­ste Großstadt Deutschlan­ds wieder zwei Vereine in der ersten Liga stellen. Auch wenn das Geld für den kleineren aus arabischer Quelle sprudelt. Mit den alten Erfolgen, die mit Blutgrätsc­hen und Schweiß erkämpft waren, hätte es natürlich wenig gemein.

In Leipzig zum Beispiel, wo Red Bull den Erfolg finanziert, strömen mehr als 40.000 Menschen zu den Heimspiele­n. Ziemlich sicher würden auch die Löwen mit neuen Triumphen wieder ihr Stadion füllen, wo immer dieses dann stehen mag. Investoren­klub hin, Investoren­klub her. Wer liebt, verzeiht fast alles.

 ??  ?? Die Zeiten, als der Fußball noch Märchen schrieb, sind dahin – vor allem in München-Giesing. Die Fans von 1860 und die Allianz-Arena, das wird keine Liebesgesc­hichte mehr.
Die Zeiten, als der Fußball noch Märchen schrieb, sind dahin – vor allem in München-Giesing. Die Fans von 1860 und die Allianz-Arena, das wird keine Liebesgesc­hichte mehr.
 ??  ?? Wer liebt, verzeiht: „Sechzger“im Fanshop, Franz Hell (oben) und der Glanz vergangene­r Tage – Korso 1966 mit Kapitän Peter Grosser (li.), Trainer Max Merkel (Mitte) und Klubpräsid­ent Adalbert Wetzel mit Meistersch­ale.
Wer liebt, verzeiht: „Sechzger“im Fanshop, Franz Hell (oben) und der Glanz vergangene­r Tage – Korso 1966 mit Kapitän Peter Grosser (li.), Trainer Max Merkel (Mitte) und Klubpräsid­ent Adalbert Wetzel mit Meistersch­ale.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria