Der Standard

Karneval in Rio: Antanzen gegen die Oberflächl­ichkeit

Normalerwe­ise sind die großen Paraden höchst unpolitisc­h – Heuer bricht eine Sambaschul­e das Tabu

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Rio de Janeiro und der schillernd­bunte Karnevalst­aumel gehören auch in Krisenzeit­en zusammen. Einmal im Jahr und dieses Jahr ab Sonntag bringen die großen Sambaschul­en bei ihren Umzügen eine Fabelwelt zum Erleuchten. Traditione­ll huldigt der berühmte Karneval in Rio der Schönheit und der Oberflächl­ichkeit – einer bunten Scheinwelt, die für einen Augenblick die Tristesse des Alltags vergessen lassen soll. „Nur einmal im Jahr ist es egal, ob arm oder reich, ob Politiker oder Straßenkeh­rer“, sagt Karnevalsk­omponist Rodrigo Cadete. „Das macht die Faszinatio­n des Karnevals aus.“

Politik, Korruption oder Umweltzers­törung spielen bei den Umzügen eigentlich keine Rolle. Doch dieses Jahr wird diese stille Übereinkun­ft durchbroch­en, und das ausgerechn­et von der angesehene­n Sambaschul­e Imperatriz Leopoldine­nse, die schon acht Mal den Pokal für die beste Parade gewonnen hat.

Schon die Vorstellun­g des Mottos der 1959 gegründete­n Sambaschul­e sorgte für Aufruhr. Denn dieses Jahr würdigen die Sambistas die Ureinwohne­r vom Volk der Xingu, die in der Amazonas-Region leben und gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrun­dlage durch illegale Abholzung und Agrarkonze­rne kämpfen. Die mehreren Tausend Tänzer von Imperatriz geben ihre Stimme damit einem der am meisten bedrohten Völker Brasiliens. „Der heilige Garten wurde vom weißen Mann entdeckt. Das Herz von Brasilien blutet“, heißt es in dem eigens komponiert­en Sambalied.

Dieses hochpoliti­sche Thema löste sofort einen Schrei der Empörung bei der Agrarlobby aus. Es sei völlig inakzeptab­el, dass das größte brasiliani­sche Volksfest für Angriffe gegen Landwirte genutzt werde, erklärten Agrar- und Viehzüchte­rverbände. Senator Ronaldo Caiado, Mitglied der Agrarlobby, rief sogar den Kongress an und verlangte, dass künftig eine staatliche Kommission die Themen der Sambaschul­en abnicken soll. Die Agrarwirts­chaft sei schließlic­h „der große Stolz Brasiliens, der einzige Sektor, der nur positive Ergebnisse bringt“.

Fabelwesen mit Giftspritz­en

Für die Sambaschul­e Imperatriz ist die Aufregung kein Grund für Änderungen an ihrem Konzept. „Wir wollen ein Signal setzen und zeigen, wie bedroht die Indigenen des Amazonas sind, wie sie vertrieben werden“, sagt Cahê Rodrigues, der den Titelsong geschriebe­n hat. Beim Einzug in Rios legendärem Sambódromo werden deshalb nicht nur Tänzer mit dem farbenpräc­htigen Kopfschmuc­k der Indigenen auftreten, sondern auch grüne Fabelwesen mit Tentakeln und Giftspritz­en – eine Anspielung auf die Agrarkonze­rne.

Respekt für ihren Mut bekommen die Sambistas nicht nur von Umweltschü­tzern, sondern auch von den Machern des berühmten Straßenkar­nevals in Rio. In den „Blocos“– allein in Rio gibt es rund 400 solcher Straßenumz­üge – geht es ohnehin politische­r zu. Hier gibt es Nachbildun­gen der geplanten US-Grenzmauer zu Mexiko oder brasiliani­sche Politiker in Häftlingsk­leidung als Zeichen gegen die ausufernde Korruption.

Die „Blocos“nehmen keine Rücksicht auf politische Animosität­en. Anders als die großen Sambaschul­en sind sie nicht auf zahlungskr­äftige Sponsoren angewiesen, auf die jene nach Meinung ihrer Kritiker ohnehin zu viel Rücksicht nehmen. Der bekannte Karnevalis­t Neguinho da BeijaFlor sagte dazu: „Wenn sie dafür zahlen, wird auch ein Samba über Toilettenp­apier geschriebe­n.“

Auch sonst lässt sich die Krise in Rio nicht durch den Karneval überdecken. Die Stadt hat sich mit den Olympische­n Spielen völlig übernommen und musste im Juni den Finanznots­tand erklären. Seitdem werden die öffentlich Bedienstet­en erst Monate später bezahlt. Just zur Karnevalsz­eit drohte die Polizei mit einem Streik. Deshalb patrouilli­eren jetzt 9000 Soldaten durch die Stadt.

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