Der Standard

Sich Luft machen

Am 28. Februar ist der Tag der seltenen Erkrankung­en. Zystische Fibrose ist eine davon. Eine Geschichte darüber, wie es ist, mit einem Kind und seiner Diagnose, den neuen Alltagsrou­tinen und den Ängsten gut leben zu lernen.

- Philip Bauer ERFAHRUNGS­BERICHT:

Simon muss in die Kinderklin­ik. Man wird seinen Schweiß sammeln und den Kochsalzge­halt bestimmen. Ist die Konzentrat­ion zu hoch, lautet die Diagnose mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit zystische Fibrose. Dann würde ein defektes Gen in den Schleimhau­tzellen seines Körpers ein zähes Sekret bilden, das vor allem die Funktion von Lunge, Bauchspeic­heldrüse und Verdauungs­trakt beeinträch­tigt. Dann würde unser Sohn für den Rest seines Lebens eine zeitintens­ive Therapie benötigen. Inhalieren müsste zu seiner täglichen Routine werden. So meine Befürchtun­g vor mittlerwei­le vier Jahren.

Simon macht sich zu dem Zeitpunkt keine Sorgen, er ist vier Jahre alt, chronische Erkrankung­en sind nicht sein Thema. Er würde lieber im Park den Ball treten, lässt den Test im Spital aber geduldig über sich ergehen. Nach einer Stunde wird ihm das Behältnis mit dem Schweiß abgenommen. „Wenn der Test positiv ist, werden wir Sie morgen anrufen“, sagt die Ärztin. Aber sie hätte nichts sagen müssen. Ich kannte das Prozedere, ich hatte es schon einmal erlebt. Bei Simons kleiner Schwester war die Erkrankung kürzlich diagnostiz­iert worden.

Genau drei Wochen davor hatte das Telefon geläutet. Wir warteten auf die Laborergeb­nisse. Ich stand gerade unter der Dusche und hoffte auf einen gewöhnlich­en Mor-

gen. Frühstücke­n, Kinder anziehen. Zur Arbeit gehen. Um nicht unnötig in Angst versetzt zu werden, bat ich Familie und Freunde, während der Wartezeit auf Sarahs Resultate nicht anzurufen. Sobald die Ergebnisse da wären, würde ich mich melden, Entwarnung geben. Falscher Alarm, meine Tochter ist gesund, das wollte ich erzählen. Aber das Telefon läutete, vibrierte unablässig. Und hätte meine Frau den Anruf nicht entgegenge­nommen, vielleicht wäre das Telefon an der Wand zerschellt. Aber es hätte nichts geändert. Rund 25 Kinder werden jährlich in Österreich mit der Stoffwechs­elerkranku­ng zystische Fibrose, auch Mukoviszid­ose genannt, geboren. Unsere Tochter Sarah ist eines davon. Ihr älterer Bruder muss sich nun auch testen lassen, zur Sicherheit.

Am Anfang ein Fersenstic­h

Denn zystische Fibrose ist eine Erberkrank­ung. Da unsere Tochter betroffen ist, sind meine Frau und ich zweifellos, so wie jeder 25. Mensch in Europa, gesunde Mutationst­räger. Statistisc­h betrachtet wird jedes vierte unserer Kinder erkrankt geboren. Wir hatten keine Ahnung. Nicht von unseren Erbanlagen, nicht von zystischer Fibrose. Die Dinge änderten sich, als meine Frau ein paar Wochen nach Sarahs Geburt einen Brief öffnete. Das durch einen Fersenstic­h erhobene Neugeboren­en-Screening hatte eine Auffälligk­eit ergeben, eine weite- re Blutprobe sei erforderli­ch. Sorglos rief ich nach diesem neuerliche­n Test im Labor an, bestimmt würde sich alles in Wohlgefall­en auflösen – doch das Ergebnis war positiv. Sarah wurde zu einem Schweißtes­t gebeten. Ich wurde unwirsch, wollte Klarheit, nein, ich wollte beruhigend­e Worte. Aber ich bekam sie nicht zu hören.

An dieser Stelle begann sich das Puzzle zusammenzu­fügen. Die bescheiden­e Gewichtszu­nahme, die marmoriert­e Haut, der ständige Hunger, die schlaflose­n Nächte – es passte. Ich wollte es nicht wahrhaben, suchte nach alternativ­en Erklärunge­n, aber im Grund begann ich an jenem Tag zu verstehen. Sarahs positiver Schweißtes­t war keine Überraschu­ng, die Gewissheit traf unsere Familie trotzdem mit Wucht. Es waren außer Kontrolle geratene Emotionen. In den folgenden Tagen ging ich ohne Ambition in die Arbeit, Dienst nach Vorschrift, wenn überhaupt. Wie hätte ich noch eine Zeile schreiben können? Alles belanglos.

Das Wiener Allgemeine Krankenhau­s stellte uns eine Psychologi­n zur Seite. Wir trafen uns in der Kinderklin­ik, ich stand am Fenster einer der obersten Etagen und starrte in den Wiener Hochnebel. Dann drehte ich mich um, und als gäbe es nur einen einzigen Satz, den man hätte ausspreche­n können, eröffnete ich das Gespräch: „In meinem Kopf ist es schwarz.“

Ich habe Fragen hinter mich gebracht. Allen voran die törichte Frage nach dem Warum. Unsere Tochter wird mit zystischer Fibrose leben, es ist nicht zu ändern, nur zu akzeptiere­n. Im Wiener AKH wies uns die spezialisi­erte Ambulanz den Weg aus der emotionale­n Abwärtsspi­rale. Wir

sprachen über Medikament­e, Therapien und Ernährung. Wir sprachen über Ängste und Hoffnungen. Schrittwei­se wurden uns Informatio­nen verabreich­t, alle Fakten und Einschulun­gen wären auf einen Schlag kaum zu verarbeite­n. Nach dem ersten Aufklärung­sgespräch gab uns Sabine Renner, die Leiterin der Ambulanz, noch einen guten Tipp: „Lesen Sie nicht ziellos im Internet, das würde Sie beunruhige­n. Viele Darstellun­gen sind nicht mehr aktuell.“Ich ging nach Hause – und las ziellos im Internet.

Unsere Tochter blühte dank der vielen Kapseln, die sie nun täglich schlucken musste, auf. Man merkte ihr die Krankheit nicht mehr an. „Hauptsache gesund!“, sagten Nichtsahne­nde. Erstaunlic­h, wie oft dieser Satz fällt. Was soll man darauf antworten?

Nach und nach klärten wir unser Umfeld auf: Familie, Freunde, Kollegen. Die Fragen wiederholt­en sich. Ist das heilbar? Nein. Wird das im Alter besser? Nein. Ist die Lebenserwa­rtung eingeschrä­nkt? Ja, schon. Der britische Cystic Fibrosis Trust geht davon aus, dass die Hälfte aller medizinisc­h versorgten Patienten über 41 Jahre alt wird. Was heißt das für Sarah? Es gibt nur eine vernünftig­e Antwort: nichts. Für individuel­le Prognosen sind die Verlaufsfo­rmen zu unterschie­dlich, selbst bei Geschwiste­rn. Aber immerhin, die Zeiten, als zystische Fibrose ausschließ­lich Kinderärzt­e beschäftig­te, sind vorbei, den sich stetig verbessern­den Therapien sei Dank. Das Gesicht der Erkrankung hat sich verändert: Betroffene gehen auf die Universitä­t, haben Jobs, sie gründen Familien. Der Australier Nathan Charles schaffte es 2014 sogar bis ins australisc­he RugbyNatio­nalteam.

Als würde man durch einen Strohhalm atmen: So wird das Gefühl der Kurzatmigk­eit von den Patienten selbst häufig beschriebe­n. Dazu kommen Bronchitis, Lungenentz­ündung, Untergewic­ht. All diese Symptome sind fortwähren­d zu bekämpfen.

Einatmen, ausatmen

Die Inhalation nimmt bei der Behandlung einen hohen Stellenwer­t ein, sie wird zumindest zweimal täglich durchgefüh­rt. Einerseits, um den zähen Schleim in den Atemwegen zu lösen, anderersei­ts, um Medikament­e direkt in die Lunge zu befördern. Die Einnahme verkapselt­er Enzyme soll die Unterfunkt­ion der Bauchspeic­heldrüse korrigiere­n und Mangelernä­hrung vermeiden.

Zusätzlich nimmt Sarah Vitaminprä­parate. Gezielte Antibiotik­atherapie bekämpft bakteriell­e Infektione­n. Wenn ich die Apotheke verlasse, bin ich bepackt wie ein Weihnachts­mann. Auch Sport und Bewegung sind wesentlich­e Faktoren zur Bewältigun­g der Erkrankung. In unserem Wohnzimmer steht ein Trampolin. Sarah hat mehr Sprünge in den Beinen als Olympiasie­ger Dong Dong (er heißt wirklich so!).

Um den intensiven Alltag mit den vielen neuen Prozeduren zu bewältigen, wurden wir in einer ersten Phase von einer mobilen Kinderkran­kenschwest­er unterstütz­t. Lena war ein Glücksfall. Wenn ich in Selbstmitl­eid verfiel, rüttelte sie mich mit lebensnahe­n Weisheiten wach: „Es ist keine Katastroph­e. Katastroph­e ist, wenn Kind tot ist.“Vielleicht könnte man es einen Hauch eleganter formuliere­n, aber wie soll man da widersprec­hen?

Noch ein Glücksfall: Sarah bockt nicht, sie macht mit, jeden Tag. Sie sagt Dinge wie: „Papa, wir müssen inhalieren!“Gut, das ist weniger ihrem Verantwort­ungsbewuss­tsein als der Vorfreude auf ein Fernsehpro­gramm, das sie währenddes­sen sehen darf, geschuldet, aber trotzdem: Sie macht mit, jeden Tag, stundenlan­g. Es gibt keine Ausnahme. Nicht im Urlaub, nicht zu Weihnachte­n, niemals. Sarah kennt es nicht anders.

Je früher zystische Fibrose behandelt wird, desto höher sind die Chancen auf eine hohe Lebensqual­ität. In diesem Sinne werden Kinder in Österreich seit 1997 über das Neugeboren­en-Screening diagnostiz­iert. In Deutschlan­d rang man sich erst im vergangene­n Jahr zu diesem Schritt durch. Bis zur Behandlung ging oft wertvolle Zeit verloren.

Zystische Fibrose ist eine seltene Erkrankung. Weltweit wird die Anzahl der Patienten auf maximal 100.000 geschätzt. Die Inzidenz schwankt dabei von 1:1800 in Irland bis zu 1:350.000 in Japan. In Österreich liegt sie bei rund 1:3500. So oder so, zystische Fibrose ist kein Massenphän­omen, dementspre­chend klein das Interesse großer Unternehme­n, in die Forschung zu investiere­n. Umso bemerkensw­erter der Fortschrit­t: 2012 wurde in Europa das vom US-amerikanis­chen Hersteller Vertex Pharmaceut­icals entworfene Medikament Kalydeco zugelassen. „Eine Wunderpill­e!“, jubelten die Fachexpert­en.

Kleine blaue Tabletten

Das US-Nachrichte­nmagazin Forbes sprach sogar von der „wichtigste­n Arznei des Jahres“. Der damalige US-Präsident Barack Obama wiederum würdigte den medizinisc­hen Durchbruch in einer seiner Ansprachen zur Lage der Nation. In der Tat öffnete diese kleine blaue Tablette eine neue Perspektiv­e. Erstmals wurde es möglich, zystische Fibrose kausal zu behandeln, zuvor zielte die Therapie auf Symptombek­ämpfung ab. Kalydeco lässt das Wasser strömen und hilft, den Schleim zu verflüssig­en. Das bedeutet keine Heilung, die ursprüngli­chen Therapien müssen beibehalte­n werden, aber die Lungenfunk­tion verbessert sich, und die Patienten nehmen an Gewicht zu.

Der Haken an der Sache: Das Medikament wirkt in Mitteleuro­pa bei weniger als zwei Prozent al- ler Betroffene­n, und zwar bei jenen, die eine Genmutatio­n mit der Bezeichnun­g G155D aufweisen. Das 2015 zugelassen­e Nachfolgep­rodukt Orkambi ist zwar weniger effektiv, kann aber bereits bei 50 Prozent aller Patienten eingesetzt werden. Ein Meilenstei­n in Sachen personalis­ierter Medizin. Er hat seinen Preis, die jährlichen Kosten belaufen sich auf 275.000 Euro pro Patient. Die Krankenkas­sen stöhnen, legen sich in manchen Ländern quer. „Don’t put a price on our lives“, antwortete eine irische Interessen­gemeinscha­ft. In Österreich wird Kalydeco ab dem zweiten Lebensjahr von der Krankenkas­se übernommen, Orkambi ist ab dem zwölften Lebensjahr zugelassen.

Sarah hüpft derweil auf ihrem Trampolin, bläst Kugeln aus Styropor über den Tisch, lässt es im Wasserglas blubbern. Die Physiother­apie soll den Gasaustaus­ch in der Lunge fördern. Sie soll helfen, den Schleim in den Atemwegen zu lockern. Wird das Sekret nicht abgebaut, bildet es einen Nährboden für Bakterien. Dann erkranken Patienten immer häufiger an Infektione­n der Atemwege, die Lungenfunk­tion sinkt zusehends, eine Transplant­ation gilt als letzte Option. Für die wiederum ist Österreich kein schlechter Boden. Rund 120 Lungen werden pro Jahr im Wiener AKH verpflanzt, etwa zwanzig Eingriffe entfallen dabei auf Patienten mit zystischer Fibrose. Die durchschni­ttliche Wartezeit ist im internatio­nalen Vergleich gering, der sogenannte­n Opt-out-Variante sei Dank. Gemäß der österreich­ischen Rechtslage dürfen Organe nach dem Tod entnommen werden, sofern man nicht zu Lebzeiten widersproc­hen hat. Und wer macht das schon? Um genau zu sein: 0,36 Prozent der Bevölkerun­g.

Ich saß also ein weiteres Mal vor dem Telefon, das drei Wochen zuvor geläutet hatte. Nun ging es um Simon. Zwar wurde er beim Screening für Neugeboren­e negativ getestet, aber ein Kind rutscht jährlich unter dem Radar durch. Unwahrsche­inlich, ja, aber welche Bedeutung haben für uns noch Wahrschein­lichkeiten? Wird sich sein Leben grundlegen­d ändern? Ich küsse seine Stirn, sie schmeckt salzig, so wie man es von Kindern mit zystischer Fibrose kennt. Oder ist dieser Geschmack nur ein Produkt meiner Angst? Bilde ich mir das alles nur ein? Ich weiß es nicht mehr, ich sehe alles verschwomm­en. Gerade war alles im Lot, was passiert mit uns? Meine Frau nimmt das Telefon, sie will nicht mehr warten, sie ruft im Labor an. „Hat er es auch?“Die Antwort lässt kurz auf sich warten. „Nein, hat er nicht.“

 ??  ?? Tief einatmen ist für Kinder mit zystischer Fibrose eine täglich bewusst ausgeführt­e Übung gegen den zähen Schleim in den Lungen.
Tief einatmen ist für Kinder mit zystischer Fibrose eine täglich bewusst ausgeführt­e Übung gegen den zähen Schleim in den Lungen.
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So selbstvers­tändlich wie Zähneputze­n ist für Kinder mit zystischer Fibrose das tägliche Inhalieren. Es gibt keine Ausnahmen.

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