Der Standard

Bimsstaub über der Fichtengre­nze

Auf dem Weg zum Gipfel des Pico del Teide definierte der deutsche Forscher Alexander von Humboldt die bis heute gebräuchli­chen Vegetation­szonen. Wer heute der Route folgt, die er vor mehr als 200 Jahren einschlug, lernt facettenre­iche Landschaft­en Tenerif

- Christian Schreiber

Ein Eisentor versperrt den Weg zum Gipfel. Wir hoffen, dass es aufgeht, um die letzten Meter zum Pico de Teide hinaufstei­gen zu können. Der Vulkan auf der Kanarenins­el Teneriffa ist mit 3718 Metern der höchste Berg Spaniens. Man darf ihn nur mit Genehmigun­g besteigen, das Zeitfenste­r dafür beträgt zwei Stunden. Wir haben alles richtig gemacht, stehen nach mehrtägige­r Inseldurch­querung und schweißtre­ibender Bergtour pünktlich am Tor. Aber nun gibt es Schwierigk­eiten. Unsere Expedition droht kurz vor dem Ziel zu scheitern.

Vor vier Tagen sind wir auf Meereshöhe gestartet und folgen einer sehr speziellen Route auf den Teide: Wir beschreite­n den Weg, den der deutsche Naturforsc­her Alexander von Humboldt vor mehr als 200 Jahren genommen hat, um den Gipfel zu vermessen, das Blau des Himmels mit dem Spektromet­er zu bestimmen und die Pflanzen zu kategorisi­eren. Mit dieser Tour hat Humboldt die Geobotanik begründet. Am Teide legte er erstmals Vegetation­sstufen fest, an denen sich die Wissenscha­ft fortan orientiert­e.

Humboldt berichtet in seinem Reisewerk ausführlic­h über den Teneriffa-Trip und überrascht mit Details, die man heute noch beobachten kann. Als der Forschungs­reisende am 19. Juni 1799 mit der „Pizzaro“vor Santa Cruz ankerte, zeigte sich die Insel zunächst nur schemenhaf­t: „Das Land trat nur undeutlich hervor. Ein dicker Nebel verwischte alle Umrisse.“Schleunigs­t machte er sich auf nach La Laguna, der damaligen Hauptstadt. Humboldt spricht ob des kühleren Klimas von einem „köstlichen Aufenthalt­sorte“und entdeckte auf den Häusern „sempervivu­m canariense“, den kanarische­n Hauswurz, der immer noch überall auf den Dächern wuchert. Allerdings sind die meisten Windmühlen verschwund­en, und statt 400 Mönchen leben heute vier Nonnen dort. „Manche Reisende behaupten, die Hälfte der Bevölkerun­g bestehe aus Kuttenträg­ern.“Humboldt übernachte­te bei wohlhabend­en Familien, ein Persilsche­in des spanischen Königs öffnete ihm Tür und Tor.

Übergangsk­lima

Humboldt benutzte ihn auch dafür, um nach La Orotava zu gelangen. Das ist der Hauptort des fruchtbare­n grünen Tales im Norden Teneriffas, der Ausgangspu­nkt für seine Besteigung sein sollte. Zunächst inspiziert­e er den Botanische­n Garten, der damals eine Durchgangs­station für exotische Pflanzen war, bevor sie in das rauere Klima des europäisch­en Festlandes gebracht wurden. Heute ist die einzige Attraktion ein Riesen-Ficus mit gewaltigen Luftwurzel­n. Im Gegensatz zu Humboldt ziehen wir zügig weiter.

Das Tal ist aus einem Erdsturz hervorgega­ngen, links und rechts wird es von mächtigen Felswänden bestanden. Der offizielle „Humboldt-Aussichtsp­unkt“gibt den Blick frei auf Bananenpla­ntagen und Erdäpfeläc­ker, die bis zu dreimal im Jahr abgeerntet werden. Wer hier steht, kann nicht glauben, dass er sich auf einer kargen Vulkaninse­l befindet. Des Forschers Aufzeichnu­ngen über das Orotavatal zählen zu den umfangreic­hsten der Teneriffa-Reise, und so können wir immer wieder den Blickwinke­l Humboldts einneh- men, Besonderhe­iten der facettenre­ichen Landschaft erkennen.

Nach Humboldt’scher Definition befinden wir uns nicht mehr in der ersten Vegetation­sstufe, die er „Zone der Reben“betitelte, sondern in der Lorbeer-Region, der zweiten Zone. Sie ist schnell durchschri­tten, und man taucht ein in die „Stufe der Fichten“. Da ist dem Forscher ein Fehler unterlaufe­n, denn man findet hier ausschließ­lich die robuste kanarische Kiefer. Selbst nach einem Feuer wachsen aus den verkohlten Gerippen wieder neue Triebe.

In ihrer Widerstand­skraft ähneln die Einwohner Teneriffas ihrem Nationalba­um, wie wir bei einer Pause in der Wanderhütt­e La Caldera lernen. Elena Carballos serviert „papas arugadas“(salzige Erdäpfel) zu geschmorte­m Kaninchen und wettert gegen die Beam- ten in Orotava, die ihre Hütte abreißen wollen, um einen Hochseilga­rten mit Busparkpla­tz zu erschaffen. „Meine Familie ist seit 40 Jahren hier. Wir lassen uns nicht vertreiben.“300.000 Euro müsste Elena für einen Umbau lockermach­en. „Wie soll das gehen bei unseren Preisen?“Für wenige Euro wird bei ihr jeder noch so ausgehunge­rte Wanderer satt.

Öde Stufen vier und fünf

Am Kraterrand verabschie­den wir uns von den letzten Kiefern. Humboldt siedelt hier die Stufen vier und fünf an, die er zusammenfa­sst als „öden Landstrich, wo Haufen von Bimsstein, Obsidian und zertrümmer­ter Lava wenig Pflanzenwu­chs aufkommen lassen“. Nachdem wir die ganze Zeit im Nebel aufgestieg­en sind, sehen wir endlich den Teide. Seine kegelförmi­ge Spitze wächst 1700 Meter hoch aus der Caldera Las Cañadas, einem Vulkankess­el mit 17 Kilometern Durchmesse­r rund 2000 Meter über dem Meer. Wer die Wolkendeck­e durchbroch­en hat, die sich am Kesselrand staut, trifft auf eine surreale Mondlandsc­haft.

Der Stein, der schaumig-leicht in den Händen liegt und der Montaña Blanca, dem „Weißen Berg“, den Namen gab, missfiel Humboldt: „Wir litten sehr vom erstickend­en Bimssteins­taub.“Hier hat auch für ihn der beschwerli­che Aufstieg begonnen, der durch das struppige Barranco El Dorna- jito zum Refugio de Altavista führt. In dieser Hütte auf 3260 Metern weist Artemio Lorenzo Wanderern gerne Zimmer zu. Manch einer sei aber zu geizig, um die paar Euro für ein warmes Bett auszugeben, und schlafe lieber im Freien, meint Artemio. Er schüttelt sich, wenn er an seine kälteste Nacht denkt, in der das Thermomete­r auf minus 18 Grad fiel.

Wir haben keine Übernachtu­ng eingeplant und mühen uns kurz danach durch Schnee und Eis. Ohne Steigeisen ist der Aufstieg eine einzige Rutschpart­ie – doch der Weg ist nicht mehr weit. Auch Humboldt legte an der Rambleta eine längere Pause ein – allerdings nicht, weil er, wie wir, vor einem versperrte­n Eisentor stand. Da der Gipfelanst­ieg komplett vereist ist, haben die Beamten am Teide an diesem Tag beschlosse­n, den Weg für alle zu sperren. Wo Humboldt damals haltmachte, um das Plateau unter dem Zuckerhut-Gipfel zu vermessen, spuckt heute eine Seilbahn Touristen aus: in FlipFlops und Shorts. Diese Reise erfolgte auf Einladung des DAV Summit Club.

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