Der Standard

Im Schlachtha­us

Ist Leben eine Pflicht? Und was ist dann Töten? Ein notwendige­s Übel oder ein Privileg? Um diese Frage zu beantworte­n, bin ich vergangene­n Sommer mit Schlachter­n in verschiede­ne Betriebe mitgegange­n. REPORTAGE:

- Arnon Grünberg

Muss man bereit sein zu töten, um zu leben? Steckt im Lebenswill­en nicht viel eher als die Bereitwill­igkeit, einem anderen das Leben zu nehmen, die Notwendigk­eit, das eigene Leben zu schützen? Diese Fragen beschäftig­ten mich während meiner Reisen durch die Kriegsgebi­ete im Irak und in Afghanista­n.

Als ich im letzten Sommer die Einsätze des notfallpsy­chiatrisch­en Dienstes in Rotterdam begleitete, stellte ich mir die Frage, wie weit medizinisc­he Hilfeleist­er gehen müssen, um den Selbstmörd­er von seinem Vorhaben abzuhalten. Ist Leben eine Pflicht? Und was ist dann Töten? Ein notwendige­s Übel oder ein Privileg? Um diese Frage zu beantworte­n oder wenigstens den Versuch dazu zu wagen, wollte ich in diesem Sommer bei Schlachter­n im Betrieb mitlaufen, sozusagen „embedded.“Irgendwo im Quadrat mit den Eckpunkten Soldat, Selbstmörd­er, Helfer, Schlachter befindet sich das Leben. Je älter ich werde, desto mehr kommt es mir vor, als gäbe es keinen großen Unterschie­d mehr zwischen dem Hunger nach Leben und dem Hunger nach Tod, der dem Menschen scheinbar auch inhärent ist. Alles dreht sich um das Hungern; wonach man hungert, das ist weniger wichtig.

Cesare Pavese publiziert­e Tagebücher und Briefe unter dem Titel Das Handwerk des Lebens. Er schrieb: „Der Tod wird kommen und deine Augen haben.“Wenn Leben ein Handwerk ist, dann muss es auch das Töten sein; vielleicht ist Totsein ein Handwerk.

Der Geruch frischen Blutes

An einem Montagmorg­en um sechs Uhr in der Früh sitze ich in der Kantine des Abattoir NoordHolla­nd, einer kleinen Schlachter­ei in Oost-Graftdijk. Ihr Besitzer ist Bob Bakker, ein magerer, aber muskulöser Mann in den Dreißigern, schätze ich, mit großen Ohren und einem eindringli­chen Blick. „Heute schlachten wir Kühe, Schweine, Ziegen und Schafe. Keine Pferde“, sagt Bob. Am anderen Ende des Tisches sitzt Edwin. Edwin ist von der VWA, der niederländ­ischen Lebensmitt­el- und Warenbehör­de. Er kontrollie­rt die Tiere. „Offiziell geben wir der Presse keine Auskunft“, sagt Edwin. „Dafür sind unsere Pressespre­cher zuständig.“Ich ziehe den Schluss, dass weitere Fragen auf Granit stoßen werden. Wir gehen nach unten, wo sich das Schlachtha­us und die Ställe befinden, der Ort, an dem die Tiere auf ihr Schicksal warten.

Edwin schiebt einer Kuh ein Fieberther­mometer in den Hintern. Danach zeigt er Bob das Thermomete­r. „Keine Diskussion möglich“, sagt Bob. „Die Kuh hat Fieber. Schlachtve­rbot. Die kommt in den Abdeckerwa­gen. Die wird danach verbrannt.“Der Abdeckerwa­gen holt die Tiere ab, denen ein Schlachtve­rbot auferlegt wurde. Das Thermomete­r wird abgewischt. Bobs Blick erinnert mich an den Blick, den ich bei einigen Soldaten gesehen habe. Er starrt in die Ferne, als gäbe es hinter dir etwas zu sehen, und wie freundlich er auch ist, seine Augen lachen nie. Wir betreten das Gelände. Bob sagt: „Dort fährt der Abdeckerwa­gen.“Er zeigt auf so etwas Ähnliches wie einen Kleinlaste­r, der über den Deich fährt. „Ich rufe ihn gleich an“, sagt Bob.

Da steht ein Ferkel in einer kleinen Box, in der man es betäuben wird oder genauer gesagt hirntot machen wird. „Es ist wichtig, dass das Herz noch schlägt“, sagt Bob. „Sonst kommt das Blut nicht gut raus.“Der süßliche Geruch des frischen Bluts ist weniger schlimm, als ich ihn mir vorgestell­t habe. „Die Schweine betäuben wir nicht mit einem Bolzenschu­ssgerät“, sagt Bob. „Denn das löst bei ihnen Zuckungen und Krämpfe aus, die zu Punktblutu­ngen führen, roten Pünktchen im Fleisch. Das mag der Konsument nicht.“Bob packt die Elektrosch­ockzange. Die Zange gibt einen Piepton ab, wenn das Schwein hirntot ist. Bob umklammert fachmännis­ch den Kopf des Ferkels, ich würde es schon beinah als liebevoll bezeichnen. Von jemand wie Bob würde ich auch geschlacht­et werden wollen. Das Ferkel wird an einem Haken aufgehängt, der Hals wird schnell durchgesch­nitten. Kurzes Muskelzuck­en. „Es hat sein Bewusstsei­n verloren“, sagt Bob, „das kannst du kontrollie­ren, indem du ihm die Hand vor die Augen hältst. Es hat keine Reflexe mehr.“Man hält dem Ferkel eine Hand vor die Augen. Nein, es hat keine Reflexe mehr.

Wenn das Schwein etwas entblutet ist, das heißt wenn das meiste Blut herausgefl­ossen ist, wird es in eine Maschine mit heißem Wasser gelegt, die mich an einen Wäschetroc­kner erinnert. Die Maschine vibriert. Die Borsten werden eingeweich­t. Nach etwa zwei Minuten wird das Schwein herausgeho­lt. Der Geruch ist unangenehm süßlich, als hätten wir gerade Schweinebo­uillon ziehen lassen. Die Ohren werden halb abgeschnit­ten, damit die Ohrmarke noch halbwegs am Schwein baumelt, und ein attraktive­r junger Mann mit beeindruck­enden Tattoos, Dave, zieht etwas aus den Schweinskl­auen. „Was machst du da?“, frage ich. „Ich ziehe die Nägel heraus“, antwortet Dave. Er zieht dem Schwein die Nägel heraus, so wie andere Champagner­flaschen entkorken.

Nichts wird weggeschmi­ssen, so viel habe ich inzwischen ge-

Von jemand wie Bob würde ich auch geschlacht­et werden wollen. Das Ferkel wird an einem Haken aufgehängt, der Hals wird schnell durchgesch­nitten. Kurzes Muskelzuck­en.

lernt. Bob hat zu mir gesagt: „Wenn du in einem Schlachtha­us ‚Darf ich das wegschmeiß­en?‘ sagst, wirst du nur um ein Haar nicht standrecht­lich erschossen, aber es fehlt nicht viel.“Aber die Nägel des Schweines landen auf dem Boden. Ich überlege mir, ob ich einen Nagel als Souvenir mitnehmen soll, sehe jedoch davon ab. Das Radio läuft. Über dem Lärm des Schlachten­s tönt ein Hit. In der nächsten Phase werden die letzten Borstenhaa­re abgebrannt. Ich würde nichts lieber sagen wollen als „Es gibt nichts Herrlicher­es in der Frühe als den Geruch verbrannte­r Schweinsbo­rsten.“Leider ist das nicht wahr.

Anschließe­nd wird das Schwein aufgeschni­tten, und seine Innereien werden fachmännis­ch herausgeho­lt. Hans, ein Mann in den Fünfzigern, der seit zwei Jahren bei Bob arbeitet, macht das heute Morgen. Es gibt auch noch einen anderen Hans, der ist Miteigentü­mer der Schlachter­ei. Er arbeitet heute auch mit. Die Eingeweide werden neben das Schwein gehängt, denn die müssen auch zur Kontrolle angeboten werden. Die Schweinskl­auen werden mit Nummern versehen. Lunge, Herz, Leber, Nieren, Milz des Schweines sind wunderschö­n, das Gegenteil von eklig. So wie sie da nebeneinan­derhängen, hat man das Gefühl, als betrachte man ein Stillleben. Der Schlachter ist auch Maler.

Nach den Schweinen sind die Lämmer dran. Sie werden mit einem Bolzenschu­ssgerät betäubt und danach aufgeschni­tten. „Wenn du rumschreis­t, werden sie total verrückt“, sagt Bob. „Wenn du selbst ruhig bist, sind die Tiere auch ruhig.“„Fly me to the moon“, singt Hans, bevor er die Lämmer mit dem Bolzenschu­ssgerät hirntot macht. Wäre es nicht gut für diese Reportage, wenn ich selbst auch ein Lamm töten würde? Wäre es nicht gut für mich als Menschen, das Handwerk des Tötens zu lernen?

Heute schlachten wir elf Schafe, zwei Ponys, 21 Rinder und 17 Schweine. „Die Ponys sind kugelrund“, sagt Bob, „in Frankreich macht man aus ihnen Salami, aber in den Niederland­en kauft das keiner. Das wird Tierfutter. „Wieso schlachten wir Ponys?“, informiere ich mich. „Der Besitzer bekam Q-Fieber, er konnte sie nicht mehr halten.“Alle Tiere haben eine persönlich­e Identifika­tionsnumme­r, die es theoretisc­h ermöglicht, jederzeit herauszufi­nden, welches Stück Rindfleisc­h zu welcher Kuh gehörte, aber Pferde und Ponys haben Namen. Heute schlachten wir Sabrina und Pebbles. Die Pferdeausw­eise liegen auf dem Tisch – Ponys gelten als Pferde. Nachher, wenn die Tiere untersucht sind, werden ihre Pferdeausw­eise mithilfe eines Lochers ungültig gemacht, vermutlich um einen möglichen Missbrauch der Pferdeausw­eise auszuschli­eßen. Es wird langsam Tag, auf den Feldern liegt Tau. „Hast du gut geschlafen?“, frage ich Bob. „Ich habe mich herrlich an den Körper meines Chicks gekuschelt“, antwortet Bob.

Menschen sind für ihn auch Tiere. Was sieht er in mir? Einen Fuchs, der abends durch die Vorstadt streunt und einen Abfalleime­r nach dem anderen plündert? Von unten her ertönt das Geräusch der Schleifmas­chine – als würde ein schwer beladener Güteraufzu­g hochgezoge­n. Zuerst die Schweine. „In der Schlachter­ei arbeiten beinahe keine Frauen“, sage ich zu Bob. „In den großen industriel­len Schlachthö­fen schon“, antwortet Bob. „Polnische Frauen. Oft auch noch eine Augenweide. Was sie hier verdienen, ist dort ein Vermögen.“

In einer knappen halben Stunde sind vier Schweine tot. Ich wundere mich darüber, wie schnell man sich an den Tod gewöhnt. Als würde ich seit Jahren in Gummistief­eln zwischen Blut, Fett und Eingeweide­n herumwaten. Wenn man der werden muss, der man ist, dann weiß ich, wer ich bin: ein selbstbewu­sster, anständige­r Mörder. Bloß an das Radio kann ich mich nicht gewöhnen. Ich würde lieber mit Tschaikows­ky schlachten, mit dem Finale aus Schwanense­e.

Ein junger Mann mit einer geistigen Behinderun­g arbeitet als Knecht, um die Ställe zu reinigen. Auch begleitet er, manchmal mit einem Stromstock, die Kühe zu den Boxen, in denen ihre Verwandlun­g in ein Entrecote beginnt. „Es macht nicht gerade viel Spaß“, sagt er, „aber du hast doch auch gern ein schönes Stück Fleisch auf dem Teller?“Und dann muss er schon wieder hinter einer Kuh her. Sie sträubt sich. Tja, es gibt wohl kaum einen Todeskandi­daten, der aus freiem Willen in den Exekutions­raum hineinspaz­iert. Ich sehe die Verletzlic­hkeit des Seins. Es ist nicht einfach, damit zu leben.

Im Hotel wartete meine Verlobte auf mich. Inmitten der Blutlachen fasse ich den Entschluss, mit ihr Schluss zu machen. Dann überlege ich mir, dass ich sie eigentlich lieber totficken würde. Ich werde aus dem Bett ein Meer aus Därmen, Lungen, Nieren, Blut und Scheiße machen. Ich war noch nie so geil wie im Schlachtha­us.

Die Kuh fällt um

Etwa 80 Kilometer nördlich von Berlin liegt das Städtchen Neuruppin. 1999 gründete die Familie Hesterberg etwas außerhalb von Neuruppin auf weitem Ackerland Gut Hesterberg. Auf diesem Weideland grasen heute etwa sechshunde­rt Schlachtkü­he, es spazieren sechshunde­rt Gänse darauf herum, die nur zu Weihnachte­n geschlacht­et werden, und an die tausend Legehennen. Nachdem die Legekapazi­tät der Hennen abgenommen hat, werden sie nicht geschlacht­et, sondern an Privatpers­onen verkauft.

Auf dem Weg zum Landgut bekommt man das Gefühl, man sei in Texas. Plötzlich taucht aus dem Nichts ein Gebäude auf, das man ruhig ein Schlössche­n nennen könnte. In diesem Schlössche­n wird geschlacht­et, da gibt es ein Restaurant, und es werden diverse Wurstsorte­n hergestell­t. Man kann Gut Hesterberg auch für Hochzeitsf­eiern mieten.

Ich werde von Gerry Weber empfangen, dem Mann von Karoline Hesterberg, die ihre Doktorarbe­it über den mobilen Hühnerstal­l geschriebe­n hat. Wenn man einen Hühnerstal­l so entwirft, dass er mobil ist, müssen die Hühner nicht täglich auf demselben Stück Land herumpicke­n, wodurch die Eier besser werden. Je besser es dem Tier zeit seines Lebens ging, desto größer wird der Genuss des Konsumente­n, so viel habe ich inzwischen verstanden. Stress beim Schlachten etwa ist schlecht für den Geschmack des Fleisches. Gerry trägt Jeans, darüber ein weißes Hemd und eine blaue Jacke. Er hat die Jovialität eines herausrage­nden Hoteliers. Heute werden wir vier Kühe schlachten. Auf Gut Hesterberg wird einmal pro Woche geschlacht­et. Sie halten hier vor allem Galloway-Kühe, steigen aber langsam um auf Charolais.

Das Besondere daran ist, dass die Kühe noch auf natürliche Art vom Stier begattet werden. Das ist nicht immer gefahrlos. So zog sich ein Stier beim Bespringen der Kühe eine Schulterve­rletzung zu, weswegen man ihn töten musste. Detlev ist der Schlachter. Die Berliner Morgenpost beschrieb ihn als den Yogalehrer unter den Schlachter­n. Ich gebe der Zeitung recht. Mit bewunderns­werter Ruhe führt er die Kuh in die Box. Dann klettert er auf eine Treppe, damit das Tier ihn nicht sehen kann, und setzt der Kuh das Bolzenschu­ssgerät auf den Kopf. „Man muss sich zwischen den Augen und den Ohren ein Kreuz vorstellen. Genau auf den Punkt, an dem sich die beiden Linien schneiden, musst du zielen.“Die Kuh fällt um. Hier darf ich selbst auch mit anfassen. Ich ziehe der Kuh die Haut ab. Es ist erstaunlic­h, wie einfach sich die Haut von dem Tier löst, das vor drei Minuten noch lebte. Eigentlich ist es eine liebevolle Arbeit. Es ist ein klein wenig so, als würde ich meine Verlobte streicheln, üblicherwe­ise ohne Messer. Man entnimmt der Kuh den Pansen, er bleibt warm auf dem Boden liegen. Es ist ein Wunder, wie viel Scheiße in einer Kuh drinsteckt.

Hier auf Gut Hesterberg, wo nur vier bis sechs Kühe pro Woche geschlacht­et werden und die Kühe so lange wie möglich ein artgerecht­es Leben führen, schlachten sie zu zweit. Der eine schaufelt die Scheiße in eine Schubkarre, während der andere die Kuh halbiert. Da das Schlachten hier in keiner Weise etwas mit einem industriel­len Prozess zu tun hat, gleicht das Töten und Entbeinen einem Ritual. Hier wird ein Opfer dargebrach­t, aber welchen Gott muss man günstig stimmen? Im alten Jerusalem waren die Priester, die die Opfer darbrachte­n, Schlachter. Man kann Tieropfer als Mittel gegen ein schlechtes Gewissen betrachten: Gott isst auch Fleisch.

Jonathan Safran Foer behauptet in seinem Buch Eating Animals, dass es keinen guten Grund dafür gebe, Kühe, jedoch keine Haustiere zu essen – außer der Sentimenta­lität. Ist Sentimenta­lität ein guter Grund? Weshalb ist Kannibalis­mus in so ziemlich allen Kulturen ein Tabu? Aus welchem Grund verbietet das Alte Testament ausdrückli­ch Menschenop­fer, obwohl Gott Abraham nur um ein Haar seinen Sohn Isaak hätte opfern lassen?

Eine Kuh sträubt sich, sie will nicht in die Box. Als ich mich ihr nähere, flüstert Detlev mir zu: „weg“. Sie brauchen beinahe eine Viertelstu­nde, um die Kuh in die Box zu ziehen. Dann ist es so weit. „So stur können bloß Frauen sein“, sagt Detlev nach dem Töten. Er gibt mir ein Messer und lässt mich die Eingeweide aus der Kuh schneiden. Die Eingeweide, ich trage keine Handschuhe, fühlen sich angenehm an. Lauwarm. „Was ist das?“, fragt Detlev. „Keine Ahnung“, sage ich. „Die Milz.“Der Tierarzt erscheint, um die Kadaver zu kontrollie­ren. Er ist auch Jäger. „Die Tiere werden hier zu Tode gestreiche­lt“, sagt er. Später sagt er: „Die Tiere riechen das Blut. Sie denken sich: Was steht mir da denn bevor?“

Im Restaurant esse ich zusammen mit Gerry und seiner Frau Karoline ein Entrecote. Mein erstes Stück Fleisch, seit ich mit der Schlachter­ei begonnen habe, es schmeckt ausgezeich­net. „Wir essen eigentlich nur aus berufliche­n Gründen Fleisch“, sagt Karoline, um hinzuzufüg­en: „Schweinefl­eisch müsste verboten werden, jedenfalls das billige Schweinefl­eisch.“Beim Abschied sagt Gerry: „Du musst wiederkomm­en. Dann werden wir uns betrinken.“Mir wird klar, dass auch Gerry und seine Frau sich nicht nur mit Kühen abgeben können, egal ob diese tot oder lebendig sind.

Die Schweine an den Haken

„Mein Vater war ein Meister in seinem Fach“, sagte Rob Lunenburg. „Fand ich total cool. Ich habe in Italien in der Fleischind­ustrie gearbeitet, in Frankreich.“Früher hieß der Betrieb Lunenburg Vlees, damals wurde noch in Oudewater geschlacht­et. Jetzt ist er ein Teil von Westfort, und die Schweine werden in Gorinchem geschlacht­et und hier entbeint. In Oudewater arbeiten ungefähr vierhunder­t Leute. Polen, Bulgaren, Tschechen, Kapverdier und Niederländ­er. Um Punkt vier Uhr in der Früh setzt sich das Schlachtba­nd in Bewegung. Die Schweine an den Haken fangen an, hin und her zu baumeln. Die Arbeiter in Firmenklei­dung stehen bereit, die Messer sind geschliffe­n. Die Fabrik ist auch eine Theaterpro­duktion. An der Farbe der Lampen, die an strategisc­hen Orten über dem Schlachtba­nd hängen, kann man sehen, was gerade entbeint wird. Die Bioschwein­e waren schon an der Reihe, es waren nur wenige. Jetzt leuchtet die Lampe gelb, das heißt, dass Tiere aus der Tierverkeh­rsdatenban­k (TVD) entbeint werden.

Wir sitzen in der Kantine. Ich habe den Eindruck, dass Polen bei Polen, Bulgaren bei Bulgaren sitzen. „Nachher, um acht Uhr, essen einige einen Hamburger“, sagt Rob. „Aber dann liegt ja auch ein Arbeitstag hinter ihnen. Und wenn zwei sich kloppen, dann fliegen gleich beide raus. Das geht gar nicht, bei all den Messern.“

Wir gehen zurück in die Fabrik, nachdem wir den dazu notwendige­n Hygienemaß­nahmen wieder entspreche­n. Ein Experte, der nichts mit Westfort zu tun hat, teilte mir per E-Mail mit: „Roboter sind sauberer und leichter zu desinfizie­ren als Menschen. Sie können auch im Dunkeln und in der Kälte arbeiten.“Wenn es sich um Billigarbe­it handelt, lohnt sich die Roboterisi­erung nicht.“

Per E-Mail teilt mir Westfort noch mit, dass Roboterisi­erung auch nicht in ihre Firmenstra­tegie passt: „Es ist nicht so einfach, Roboter gewisse Arbeitsgän­ge ausführen zu lassen. Schweinefl­eisch ist ein Naturprodu­kt, ein Roboter müsste in der Lage sein, das Stück Fleisch fehlerfrei zu ‚scannen‘.“Jeder Schinken oder jedes Teil ist schließlic­h anders. Das funktionie­rt (noch) nicht optimal. Dazu kommt noch, dass viele unserer Produkte Spezialanf­ertigungen für Kunden sind. Jeder Kunde hat so seine besonderen Wünsche. Auch das funktionie­rt (noch) nicht optimal. Aus praktische­r Sicht ist der Einsatz eines Roboters nicht wünschensw­ert.“Das Wort „Naturprodu­kt“tut mir gut. Wird es eine Zeit geben, in der Schweinefl­eisch kein Naturprodu­kt mehr sein wird?

Ich darf neben Adri, der kurz vor seiner Pension steht, Schwarten wegschneid­en. Warmes Fleisch, kurz nach der Schlachtun­g, lässt sich einfacher wegschneid­en als abgekühlte­s Fleisch. „Die Jungs, die nur entbeinen, werden pro Stück bezahlt“, sagt Rob, „aber nur bis zu einer gewissen Stückzahl, denn sonst entbeinen sie nicht mehr sorgfältig.“Mir fällt ein polnisches Mädchen mit knallrotem Lippenstif­t auf. Ihr Blick ist eindringli­ch, als sähe sie Wasser brennen. Während der Arbeit wird kaum gesprochen. „Die Jungs müssen früh raus“, sagt Rob. „Sie schuften schwer für ein nicht allzu hohes Einkommen, daran können wir nichts ändern. Aber wir können versuchen, die Arbeitsums­tände so angenehm wie möglich zu gestalten.“

Zu guter Letzt lege ich neben Libania, einer Frau Anfang fünfzig, schätze ich, Schweinefi­lets in eine Schachtel. Das tut sie schon seit sieben Jahren. Es macht ihr Spaß. Ihr Mann ist Lastwagenf­ahrer für Westfort. Manchmal lege ich ein Schweinefi­let nicht richtig hinein. „Nein“, sagt sie, „die schöne Seite nach oben.“

Ich komme nicht als Tieraktivi­st aus den Schlachter­eien, auch nicht als Vegetarier, dessen bin ich mir jetzt sicher. Manche Moralisten mögen das herzlos finden. Das ist es wahrschein­lich auch. Nein, ich fürchte, dass ich eher als Menschenak­tivist aus den Schlachter­eien komme.

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung der Reportage von Arnon Grünberg. In ganzer Länge gibt es sie in der Ausgabe des Magazins „Reportagen“vom 6. April zu lesen.

In diesem Schlössche­n wird geschlacht­et, da gibt es ein Restaurant, und es werden diverse Wurstsorte­n hergestell­t. Man kann Gut Hesterberg auch für Hochzeitsf­eiern mieten.

Es ist ein klein wenig so, als würde ich meine Verlobte streicheln, üblicherwe­ise ohne Messer. Man entnimmt der Kuh den Pansen, er bleibt warm auf dem Boden liegen.

 ??  ?? Der 1. März ist – zumindest in den USA – der Tag des Schweins. Das war für den Autor Arnon Grünberg aber nicht der Grund, das Handwerk des Tötens zu lernen.
Der 1. März ist – zumindest in den USA – der Tag des Schweins. Das war für den Autor Arnon Grünberg aber nicht der Grund, das Handwerk des Tötens zu lernen.
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Foto: APA Arnon Grünberg, geb. 1971, ist niederländ­ischer Erfolgsaut­or. Er lebt seit 1995 in New York. Zuletzt erschien sein Roman „Muttermale“bei KiWi (2016).

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