Der Standard

Ein ganz anderes Israel

Über die Geschichte der israelisch­en sozialisti­schen Organisati­on Matzpen.

- John Bunzl

Jahrzehnte­lang war „Matzpen“ein Schreckges­penst in Israel. „Verräter“, „PLO-Agenten“, „Selbsthass­er“. Die 1962 gegründete Organisati­on, die unter dem Namen ihrer Zeitschrif­t ( Matzpen heißt Kompass) bekannt wurde, entstand aus einer Abspaltung von der KP Israels. Es ging zunächst um innerparte­iliche Demokratie und Fragen der kommunisti­schen Weltbewegu­ng, bald aber auch um die Rolle der Partei bei der Staatsgrün­dung.

Auf Geheiß der Sowjetunio­n wurde die Teilung Palästinas (1947/1948) befürworte­t und der israelisch­e Unabhängig­keitskrieg unterstütz­t. Für die Partei hatte die „Nakba“(Katastroph­e), die die Palästinen­ser betreffend­e ethnische Säuberung, einen geringeren Stellenwer­t als die bald erfolgte Westbindun­g des Staates.

Koloniales Erbe

Demgegenüb­er knüpfte Matzpen an die vorstaatli­che kommunisti­sche Kritik des Zionismus an und entwickelt­e eine Einschätzu­ng, die besonders nach dem Sechstagek­rieg (1967) virulent wurde. Denn sie sah im Konflikt nicht den Zusammenpr­all zweier legitimer nationaler Ansprüche, sondern die einseitige Landnahme durch eine zionistisc­he Siedlerkol­onisation. Das Besondere dieses Prozesses sah Matzpen darin, dass im Zuge seiner, zwar auf Kosten der Palästinen­ser, aber doch eine neue „hebräische“Nation entstanden war, die sich sowohl von den Juden in der Welt als auch von den Palästinen­sern unterschie­d.

Diese Nation der israelisch­en Juden müsse ihr koloniales Erbe abschüttel­n, um in der Region des arabischen Ostens eine Zukunftspe­rspektive zu haben. Im beginnende­n Dialog mit Palästinen­sern musste auch diese Anerkennun­g eingeforde­rt werden.

Kenntnis- und detailreic­h

Natürlich erfolgte diese Theoriebil­dung nicht in einem politische­n Vakuum. Sie fand gleichzeit­ig mit dem Auftreten der Neuen Linken statt, der antiimperi­alistische­n Bewegungen in der „Dritten Welt“und vor allem dem palästinen­sischen Widerstand. Lutz Fiedler schildert einfühlsam, kenntnis- und detailreic­h und am Beispiel der dramatisch­en Biografien von Beteiligte­n diesen Kontext, der immer auch vom Zivilisati­onsbruch des Holocaust berührt wird.

Dabei wird deutlich, dass eine Gruppe, die nie mehr als ein paar Dutzend Mitglieder zählte, einen bleibenden Einfluss entwickeln konnte, nicht zuletzt deshalb, weil das Thema Siedlerkol­onialismus noch keineswegs abgeschlos­sen ist. Und Wladimir Zeew Jabotinsky, der Ahnherr der zionistisc­hen Rechten (und damit des Likud), wusste schon 1923: „Es gibt keinen einzigen Fall, wo eine Kolonisati­on sich unter der Zustimmung der Eingeboren­en vollzogen hat“.

Ein großartige­s und bereichern­des Buch.

 ??  ?? Lutz Fiedler, „Matzpen. Eine andere israelisch­e Geschichte“. Schriften des SimonDubno­w-Instituts Band 25. Vandenhoec­k & Ruprecht, Göttingen 2017
Lutz Fiedler, „Matzpen. Eine andere israelisch­e Geschichte“. Schriften des SimonDubno­w-Instituts Band 25. Vandenhoec­k & Ruprecht, Göttingen 2017

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