Der Standard

Alle sind Architekte­n

Das Bildungsze­ntrum Pestalozzi in Leoben blickt auf eine ungewöhnli­che Entstehung­sgeschicht­e zurück. Die Schulsanie­rung ist das Produkt vieler unterschie­dlicher Ideen aus Fachwelt und lokaler Bevölkerun­g.

- Wojciech Czaja

Es war im Oktober 2013. Nach vier Tagen intensivst­er Ideenwerks­tatt fischte Caren Ohrhalling­er die anonymen Wunschzett­el aus dem Ideenglas. Auf einem der Zettel war zu lesen: „Jeder hat das Recht auf eine schöne Schule.“Die Schrift, erinnert sich die Architekti­n, war die eines Kindes. „Mich hat dieser Satz so berührt, dass wir beschlosse­n haben, dem Ideengeber diesen Wunsch zu erfüllen.“Nach drei Jahren Entwicklun­gs-, Planungs- und Bauzeit startet dieser Tage das zweite Semester im neuen, rundum revitalisi­erten Bildungsze­ntrum Pestalozzi in Leoben.

„Das war keine klassische Schulbaupl­anung, sondern ein intensiver Planungspr­ozess, dem zu Beginn ein Bürgerbete­iligungsve­rfahren zuvorgegan­gen war“, erklärt Ohrhalling­er, Partnerin im Wiener Architektu­rbüro nonconform. „Vier Tage lang haben wir mit Lehrerinne­n, Direktoren, Eltern, Schülerinn­en und Schülern, Behörden, Bundesdenk­malamt und Pädagoginn­en diskutiert und Ideen gesammelt. Am Ende ist der Großteil der Visionen in eine erste Entwurfsst­udie eingefloss­en.“

Eine der wichtigste­n Entscheidu­ngen war, mehrere Schulstand­orte und Schultypen zusammenzu­fassen und an den Standort der ehemaligen, denkmalges­chützten Pestalozzi-Schule in Leoben-Donawitz zu übersiedel­n, denn aufgrund der demografis­chen Entwicklun­g der letzten Jahrzehnte sind die Kinder weniger und die Schulen leerer geworden. „Doch so eine Zusammenle­gung“, so die Architekti­n, „ist nicht einfach nur die Summe der notwendige­n Klassenzim­mer. Das ist ein Hybrid mit fließenden Übergängen und möglichen Synergien, die sorgfältig vorbereite­t und begleitet werden müssen.“

Acht Uhr. Nach der Schulglock­e spitzt man die Ohren vergeblich. Längst hat sich das Schulgebäu­de, in dem nun Volksschul­e, Neue Mittelschu­le und Polytechni­sche Schule unter einem Dach vereint sind und sich sogar ein gemeinsame­s Lehrerzimm­er teilen, mit einigen hundert Kindern und Jugendlich­en gefüllt. „So viele Schülerinn­en und Schüler habe ich hier seit Jahrzehnte­n nicht mehr erlebt“, sagt Volksschul­direktorin Petra Kail. Als sie 1976 zu unterricht­en begonnen hat, gab es 32 Klassen: „In den letzten Jahren konnten wir gerade acht Klassen füllen. Hinzu kommt, dass das Haus desolat und abgelebt war. Das war ein Geistersch­loss.“

Die Zeit des Fürchtens, als die leeren Terrazzoko­rridore an eine Mischung aus Schlachtho­f und psychiatri­scher Anstalt erinnerten, ist vorbei. Wo bei Eröffnung des Hauses 1927 Mädchen und Buben streng voneinande­r getrennt und noch mit Rohrstock gezüchtigt wurden, entfaltet sich nun eine heterogene Lernlandsc­haft mit Stufen, Nischen, Glaswänden, Filzpölste­rn, aufklappba­ren Kommoden und riesigen Bullaugen in der Wand.

„Das sind unsere Leselöcher“, sagen Amy (11), Jamie (11) und Adam (10). „Da können wir uns von beiden Seiten reinsetzen – einmal in der Klasse und einmal am Gang – und uns beim Lesen durch die Glasscheib­e zuschauen. Das ist voll lustig.“Und der Lieblingsp­latz der 15-jährigen Diana sind die bewegliche­n Sitzmöbel am Gang. „In den Strandkörb­en verbringen meine beste Freundin und ich die Pause. Da sind wir dann mittendrin und doch auch ganz allein.“Statt einen Teil des Sanierungs­budgets in eine kostspieli­ge kontrollie­rte Klassenrau­mbelüftung zu investiere­n, wie dies ursprüngli­ch vorgesehen war, entschiede­n sich die Planer, auf ganz normale, händisch öffenbare Fenster zurückzugr­eifen und das Geld lieber für eine „Verwohnrau­mlichung“(nonconform) des historisch­en Schulgebäu­des auszugeben. Dazu zählen nicht nur die verspielte­n Kernbohrun­gen in den Wänden, sondern auch der Einsatz von Parkettböd­en, selbst entwickelt­en Schulmöbel­n und abgehängte­n Schaumstof­fbaffeln, die wie Baumstämme von der Decke baumeln. Schallschu­tz kann auch schön sein.

Das war ein Geistersch­loss

Dass die ungewöhnli­che Sanierung (Gesamtinve­stitionsko­sten 14 Millionen Euro) überhaupt möglich war, sei vor allem dem steirische­n Schulbauge­setz zu verdanken. „Die Steiermark ist das einzige Bundesland, wo es bis heute keine Schulbauve­rordnung gibt“, sagt Michael Zinner, Schulbaufo­rscher an der Kunstunive­rsität Linz. „Entspreche­nd frei sind die wenigen Richtlinie­n und Vorschrift­en zu interpreti­eren. Wenn man so will, ist dieses Schulhaus ein ursteirisc­hes Pilotproje­kt.“

Das trifft auch auf die gesamte Abwicklung des Projekts zu. Anstatt die Planung und Sanierung laut Bundesverg­abegesetz auszuschre­iben, entschied sich der Leobener Baudirekto­r Heimo Berghold, den gesamten Planungspr­ozess zu tranchiere­n und an mehrere unterschie­dliche Architekti­nnen, Einreich- und Detailplan­er, Innenraumg­estalterin­nen, Projektste­uerer und lokale Vertre- ter zu vergeben. Auch die Kunstuni Linz war beratend mit von der Partie – und begleitet den Schulbetri­eb nun ein Jahr lang in Form von Nachbetreu­ung und Evaluierun­g. Das ist ein Novum im deutschspr­achigen Raum.

Viele Köche verderben den Brei, heißt es. In diesem Fall jedoch haben viele kommunikat­ive Köche nicht nur Schule, sondern auch Furore gemacht. „Partizipat­ion ist Beziehungs­arbeit“, sagt Zinner, „und diese Kultur hat sich auch auf die Planungs- und Bauphase übertragen. Das Projekt war ein einziges kommunizie­rendes Gefäß, in dem sich jeder mit seiner jeweiligen Expertise eingebrach­t hat. In einem klassische­n Wettbewerb wäre diese feinstoffl­iche Qualität niemals zu erreichen gewesen.“

Alles paletti? Von wegen. Die Lehrer und Direktorin­nen klagen über den bis heute nicht funktionie­renden Server, über die ungeschick­t platzierte­n Turnsaalga­rderoben sowie über die manuell umsteckbar­en Kreidetafe­ln, die sich die Architekte­n eingebilde­t hätten und die vor allem kleinere Lehrerinne­n vom ersten Tag an verfluchen. So manches Detail ist nervig. Wie bei jedem anderen Projekt auch.

Fragt sich am Ende: Warum also soll man sich so einen komplizier­ten Partizipat­ionsprozes­s antun? „Weil die Schulplanu­ng noch immer nicht im 21. Jahrhunder­t angekommen ist“, meint Michael Zinner. „Weil es immer noch formale Systeme gibt, die die Schulplanu­ng auf ein Pauschalre­zept reduzieren und neue pädagogisc­he Lernformen erfolgreic­h ignorieren. Angesichts der Tatsache, dass die Gesellscha­ft immer differenzi­erter wird, ist die Schulplanu­ng von der Stange nicht genügend.“Jeder hat das Recht auf eine schöne Schule.

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Die Schule ist Resultat eines Bürgerbete­iligungsve­rfahrens. „In einem klassische­n Wettbewerb wäre diese feinstoffl­iche Qualität niemals zu erreichen gewesen.“
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