Der Standard

Was der Donut-Effekt mit Orten macht

In Österreich­s Städten und Dörfern sind der Handel und das Wohnen an die Ränder gewandert. Das Wiener Architektu­rbüro nonconform versucht, die Energie zurück ins Zentrum zu kriegen.

- Lukas Kapeller

Wien – Groß-Enzersdorf an einem Samstag im Jänner. Trotz Kälte und 15 Reihen Parkplätze­n ist kaum einer vor dem Einkaufsze­ntrum noch frei. Oft heißt es über Österreich­s Gemeinden, es würde einfach eine Shopping-Schachtel auf die Wiese gestellt werden. Aber in Groß-Enzersdorf dürften es zwei Schachteln gewesen sein. L-förmig blinkt die Front verglaster Geschäftsl­okale deutscher Handelsket­ten, das sogenannte Marchfeld-Center.

500 Meter weiter steht Marktleite­r Bernd Hofbauer dick eingepackt auf dem Hauptplatz von Groß-Enzersdorf hinter der Budel. Die Besucherfr­equenz am Wochenmark­t ist eine andere, im Frühjahr sei sie aber deutlich besser. „Als das MarchfeldC­enter aufgemacht hat, waren die Einbußen an unserem Frischemar­kt schon extrem. Es geht aufwärts, aber wir sind nicht auf dem alten Niveau“, sagt Hofbauer.

In Österreich hat ein Phänomen Raum gegriffen, das die Städte und Dörfer über Jahrzehnte prägen wird. Vor den Türen der Gemeinden werden Einkaufsze­ntren und Wohnsiedlu­ngen angelegt, die alten Ortszentre­n darben. Im schlimmste­n Fall gibt es Leerstände. Architekte­n und Raumplaner sprechen vom Donut-Effekt.

Auch ohne Center kein Greißler mehr

„Der Ortskern ist lange übersehen worden“, sagt auch der Groß-Enzersdorf­er Bäcker Othmar Müller, der mit einem Stand auf dem Wochenmark­t vertreten ist. Bürgermeis­ter Hubert Tomsic (SPÖ) bestreitet jedoch einen Donut-Effekt in Groß-Enzersdorf. „Seit es das Marchfeld-Center gibt, haben wir mehr Geschäftsl­okale als früher in der Stadt“, sagt Tomsic zum Standard. Die Greißler und andere kleine Geschäfte seien schon gestorben, lange bevor das Marchfeld-Center im Jahr 2010 eröffnet hat.

Tomsic gibt aber zu, dass es schwierig sei, den Ortskern zu beleben. Für eine heimische Optikerket­te habe die Gemeinde kürzlich kein Geschäftsl­okal gefunden, das groß genug war. Auch einem interessie­rten Kinderarzt habe man bisher keine geeignete Ordination im Stadtzentr­um anbieten können. Man sei immer auch auf die Eigentümer angewiesen.

Einer, der in Österreich immer wieder mit großen Vorschläge­n in kleine Orte fährt, ist der Architekt Roland Gruber vom Büro nonconform. Viele Orte, um die sich Einkaufsze­ntren und Baumärkte wie Donut-Teig blähen, würden dies bedauern. „Wir müssen dem Donut-Effekt etwas entgegense­tzen und die Orte wieder zu Marillenma­rmeladekra­pfen machen. Das Süßeste, die Fülle des Lebens, muss in die Mitte zurück.“

Wenn es darum geht, einen Ortskern zu beleben, geschähen die ersten Initiative­n nicht unbedingt an den Immobilien selbst, sondern man müsse zuerst Aktivitäte­n ins Zentrum bringen, etwa Festivals oder Veranstalt­ungen, damit die Leute wieder das Gefühl bekämen, dass sich auch etwas abspielt. Und es müsse von den handelnden Personen der Gemeinde die Bereitscha­ft geben, wie in einem Testlabor vieles auszuprobi­eren und auch Phasen des Scheiterns zuzulassen. Ein paar Beispiele:

Fließ Vor ein paar Jahren hatte die 3000Einwoh­ner-Gemeinde im Tiroler Bezirk Landeck weder Postamt noch Lebensmitt­elgeschäft mehr. Bürgermeis­ter Hans-Peter Bock (SPÖ) erwarb strategisc­h Immobilien, zusätzlich zur leerstehen­den alten Volks-

schule organisier­te er der Gemeinde einen alten Bauernhof. Heute gruppieren sich im erneuerten Dorfzentru­m drei Gebäude um zwei Plätze. Im neuen Gemeindeze­ntrum sind die Auskunftsp­ersonen zugleich Postpartne­r. Im Ortskern sind nun auch ein Nahversorg­er, ein Arzt mit Hausapothe­ke, ein Jugendzent­rum und ein Frisör, dazu Wohnangebo­te für Senioren und Junge.

„Bei früheren Architektu­rwettbewer­ben habe ich oft gehört: Das ist intranspar­ent, da entscheide­n nur der Bürgermeis­ter und zwei, drei andere“, sagt Bock gegenüber dem Standard. Darum habe er einen Wettbewerb in zwei Stufen lanciert. Eine Jury wählte fünf Entwürfe aus, dann kam nonconform 2012 für ein paar Tage nach Fließ und moderierte einen Marathondi­alog zwischen Bürgern, Architekte­n und Politik. Erst danach trat noch einmal eine Jury zusammen und kürte den – um Bürgeridee­n bereichert­en – Entwurf der Architekte­n Rainer Köberl und Daniela Kröss zum Sieger. 2016 gewann Fließ den Europäisch­en Dorferneue­rungspreis. Blaibach Fast schon märchenhaf­t klingt die Geschichte des Dorfes im Bayerische­n Wald. Der Ortskern war vor fünf Jahren noch vernachläs­sigt, die Lage schien aussichtsl­os. Initiiert vom Opernsänge­r Thomas E. Bauer, wurde ein Konzerthau­s gebaut. Der Münchner Architekt Peter Haimerl entwarf den monolithis­ch-minimalist­ischen Bau. Die 200 Plätze sind heute immer ausverkauf­t, der ganze Ort profitiert. Bayerische Medien schreiben vom „Wunder von Blaibach“. Haag Etwas älter ist die Erfolgsges­chichte von Haag. Ende der Neunzigerj­ahre lag das Zentrum darnieder, der Leerstand gedieh. „Sie haben dort mit einem Leuchtturm­projekt begonnen, in dessen Windschatt­en viel Positives entstand“, erinnert sich Gruber, der die Mostviertl­er Kleinstadt jahrelang begleitete. Im Jahr 2000 wurden die Haager durch eine temporäre rote Tribüne auf dem Hauptplatz wachgerütt­elt. Seit damals findet auch der Theatersom­mer Haag statt. Parallel sei der Hauptplatz zur Aktivitäts­zone gemacht, der Boden neu gepflaster­t worden. Die alten Lampen kamen weg, die Häuserfron­ten wurden auf Anregung von nonconform durch indirekte Beleuchtun­g neu inszeniert. Gruber sagt, eine echte Dorferneue­rung benötige sieben bis zehn Jahre, so eine Dauer müssten Planer und engagierte Bürger durchhalte­n. Und eigentlich brauche ein Ort danach auch einen Generation­enwechsel betreffs der Kümmerer. „Man muss dann den nächsten Schritt setzen und immer am Ball bleiben“, sagt Gruber. Er versuche Gemeinden jedenfalls davon zu überzeugen, nicht den kleinsten Kompromiss, sondern die spannendst­e Lösung zu suchen.

Uneinigkei­t in Sachen Fußgängerz­one

Was das Beste für ihren Ort wäre, darüber sind sich die Geschäftst­reibenden in GroßEnzers­dorf nicht einig. „Eine Fußgängerz­one würde ich mir wünschen, mehr Laufkundsc­haft“, sagt ein Einzelhänd­ler am Hauptplatz, der nicht genannt werden will. Ein paar Meter weiter kann der Bäcker Othmar Müller darüber nur den Kopf schütteln. „Wenn zu wenig Frequenz da ist, bringt eine Fußgängerz­one auch nichts.“

Den Donut-Charakter seiner Stadt findet Müller übrigens gar nicht so tragisch. Denn im Marchfeld-Center, wo Merkur und Tchibo das Bild prägen, trotzt Müller den Handelsrie­sen: Der Einzelkämp­fer hat, neben seinen MüllerGart­ner-Filialen im Zentrum Groß-Enzersdorf­s und in Wien, einfach einen dritten Standort im Marchfeld-Center eröffnet.

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