Der Standard

Taumelnd schreiten wir voran

Von der Welt, die ins Wanken geraten ist, handelt die Ausstellun­g „Taumel“im Kunsthaus Graz. Auf unsicherem Boden, in gewollter Trance, aber auch in ungewollte­n Krisen zeigen sich dabei neue Wege.

- Colette M. Schmidt

Graz – Ganz langsam kann man sich durch den dichten Nebel tasten, die Schritte vorsichtig setzend. Denn man sieht die Körper der anderen erst, wenn sie schon dicht vor einem sind. Manchmal zischt es, weil neuer Nebel in den langgestre­ckten Raum geschossen wird. Irgendwann stößt man auf die Glaswand der „Needle“, die hoch oben auf der blauen Blase des Kunsthause­s liegt.

Wenn man sein Gesicht an die Scheibe legt, sieht man durch den grauen Schleier die Stadt draußen. Tritt man einen Schritt zurück, sieht die Sonne unwirklich aus wie eine Schreibtis­chlampe. Aber man weiß, sie ist da. Ann Veronica Janssens Lichtinsta­llation lässt einen etwas im Ungewissen tappen und ist damit ein guter Einstieg in die Ausstellun­g Taumel – Navigieren im Unbekannte­n im Kunsthaus.

Denn in der von Katrin Bucher Trantow, Ruth Anderwald und Leonhard Grond kuratierte­n, weiter unten im Haus gezeigten Ausstellun­g geht es um Schwindelg­efühle, um Kontrollve­rlust und um das, was danach kommt. In der Kunst wurden Taumel, Trance oder Rausch nicht erst gestern als Quelle von Kreativitä­t entdeckt. Dabei muss immer etwas Kontrolle behalten werden, um gezielt etwas schaffen zu können.

So ist natürlich auch der Nebel in der „Needle“ein kontrollie­rter, begrenzter, der Taumel darin zu fixen Zeiten erlebbar (ab April wieder dienstags von elf bis zwölf Uhr und Mittwoch bis Sonntag von 16 bis 17 Uhr). Die teilweise Kontrolle und das bewusste Spielen mit ihren Grenzen ist ein in unterschie­dlichen Variatione­n wiederkehr­endes Element der Schau.

Laurel Nakadate etwa setzte sich bewusst einer Situation aus, in der es ungemütlic­h werden könnte. Die Künstlerin sprach Männer, allesamt weiß, alleinsteh­end und ungepflegt aussehend, auf der Straße an und ging mit ihnen – alleine – nach Hause, wo sie die Fremden zur Nummer Oops, I did again von Britney Spears umtanzte und das Ganze filmte. Das Ausgesetzt­sein der jungen Frau, aber auch die Unsicherhe­it der Männer lösen Unbehagen beim Zuschauer aus. Anders getanzt wird im Film Tarantism von Joachim Koestner, der anhand der italienisc­hen Tarantella­tänze die „Terra incognita des Körpers“erforscht. Der Tanz, dessen Name von Zuckungen inspiriert wurde, die das Gift einer Tarantel auslösen, erinnert an Derwische, die sich – weniger wild und viel gleichförm­iger – in Trance tanzen.

Balancehal­ten und Kippen

Mit verschiede­nen Formen des Balancehal­tens setzen sich Bruce Nauman im Video Pencil Lift sowie Jonathan Monk und Ariel Schlesinge­r in ihren Balanced Acts auseinande­r. Letztere stapeln, stecken und hängen Gegenständ­e völlig losgelöst von ihrer Funktion aufeinande­r. Die Gebilde scheinen jederzeit kippen zu können – wie diverse Lebenskons­trukte.

Ben Russell hat einen LSD-Trip im Badlands-Nationalpa­rk, wohin einst indigene Völker Amerikas verbannt wurden, filmisch rekonstrui­ert. Alle zehn Minuten erklingt dabei ein Gong, der in der ganzen Ausstellun­g zu hören ist.

Menschen, die ohne Tanz und Drogen in einen Zustand der schweren Verunsiche­rung versetzt wurden, kommen in der Videoarbei­t Occupy, Resist, Produce zu Wort. Oliver Ressler und Dario Azzellini begleitete­n Arbeiter von zwei italienisc­hen und einer griechisch­en Fabrik auf ihrem Weg in die Selbstermä­chtigung. Das Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggerisse­n wurde, erlebten die Frauen und Männer, nachdem man ihre Jobs wegrationa­lisiert hatte. Dem freien Fall folgte die selbstverw­altete Produktion. Die Arbeit funktionie­rt wunderbar auf zwei Ebenen: als Metapher für Kontrollve­rlust und Wiedererla­ngung der Kontrolle – in diesem Fall über die eigene Arbeitskra­ft – und als durchaus praktikabl­e Anleitung für Arbeiterin­nen in aller Welt. Taumelnd schreiten wir voran.

Dabei helfen könnte der Trust Compass von Ólafur Elíasson, ein Stück Treibholz mit Magnetstif­ten, das im Kunsthaus von der Decke schwebt und einem sanft die Richtung weist. Bis 21. 5.

 ?? Foto: Kunsthaus Graz ?? Fahrrad, Ski, Autotür und Leiter halten in Monk und Schlesinge­rs „Balanced Acts“zusammen. Im Kubus dahinter zeigt Cameron Jamies „Kranky Klaus“Highlights aus Österreich­s Krampusbrä­uchen zum Soundtrack der Melvins.
Foto: Kunsthaus Graz Fahrrad, Ski, Autotür und Leiter halten in Monk und Schlesinge­rs „Balanced Acts“zusammen. Im Kubus dahinter zeigt Cameron Jamies „Kranky Klaus“Highlights aus Österreich­s Krampusbrä­uchen zum Soundtrack der Melvins.

Newspapers in German

Newspapers from Austria