Anatomische Sammlungen des Grauens
1947 standen beim Nürnberger Ärzteprozess 20 besonders stark belastete NS-Ärzte vor Gericht. Wie die Medizinhistorikerin Sabine Hildebrandt weiß, sind diese dunkelsten Kapitel der Medizingeschichte etwa in der Anatomie immer noch nicht restlos erforscht.
Wien – 70 Jahre ist es her, dass 20 NS-Mediziner und drei ihrer Mithelfer beim Nürnberger Ärzteprozess auf der Anklagebank saßen. Was damals ans Tageslicht kam, übertraf die schrecklichsten Fantasien: Ärzte hatten in Konzentrationslagern unbeschränkte Verfügungsgewalt über die Häftlinge erhalten und diese dafür missbraucht, grauenvolle Experimente durchzuführen, die in vielen Fällen mit dem Tod der unfreiwilligen Versuchspersonen endeten.
Sieben der Angeklagten büßten ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit dem Tod, andere erhielten lange Haftstrafen. Eine Konsequenz des Prozesses war die Formulierung des Nürnberger Kodex, der seit 1947 die Durchführung medizinischer, psychologischer und anderer Experimente am Menschen regelt – und dem in den nächsten Tagen ein großes Symposium in Wien gewidmet ist (siehe Kasten unten).
Sieben Jahrzehnte nach dem Prozess und der Erstellung dieser „Zehn Gebote“der Medizinethik sollte die deutschsprachige Medizin die dunkelsten Jahre ihrer Geschichte eigentlich längst lückenlos aufgearbeitet haben, würde man meinen. Doch man muss sich immer wieder aufs Neue wundern, was bis in die jüngste Vergangenheit unentdeckt oder unerforscht blieb.
Lücken in der Forschung
Um nur zwei Beispiele zu nennen: Erst seit Ende 2014 gibt es erste genauere Schätzungen der Zahl der bei den Menschenversuchen getöteten oder verletzten Personen. Der britische Medizinhistoriker Paul Weindling, einer der Mitorganisatoren der Wiener Tagung, hat in seinem Ende 2014 erschienenen Buch Victims and Survivors of Nazi Human Experiments die NS-Menschenexperimente erstmals aus Opferperspektive geschildert.
Ein paar Monate später machte der Straßburger Mediziner und Historiker Raphael Toledano im Museum des Anatomischen Instituts seiner Universität eine verstörende Entdeckung: Er stieß im Juli 2015 auf Gewebeproben von jenen jüdischen Frauen und Männern, die im August 1943 im elsässischen KZ Natzweiler-Struthof vergast wurden, nachdem sie zuvor von Auschwitz dorthin deportiert worden waren.
Ihre Ermordung geschah im Auftrag des berüchtigten Anatomen August Hirt, der die 86 Leichen präparieren wollte, um sie seiner Skelettsammlung hinzuzufügen. Dazu kam es zwar nicht, und die Gebeine wurden 1946 in einem Grab am jüdischen Friedhof beigesetzt. Doch die Gewebeproben waren mehr als 70 Jahre lang niemandem an der Uni Straßburg aufgefallen.
Das neue Forschungsprojekt, das sich nun in Straßburg der Geschichte dieser Gewebeproben widmet und auch beim Symposium in Wien vorgestellt wird, ist nur eine von mindestens vier laufenden Untersuchungen, von denen die Medizinhistorikerin Sabine Hildebrandt weiß, die sich seit Jahren mit den verdrängten Restbeständen der NS-Anatomie befasst.
„Sehr wenig weiß man etwa noch über die Kästen mit histologischen Schnitten, die NS-Medizinstudenten damals erhielten“, sagt die Anatomiedozentin und Medizinhistorikerin von der Harvard Medical School in Boston im Standard- Gespräch. Diese Kästen enthielten rund 160 Präparate, die vermutlich von hingerichteten Personen stammten. Wie viele solcher Studienbehelfe es gab und wohin diese verschwanden, sei unerforscht, sagt Hildebrandt.
Knochenreste in Berlin
Wenn etwas gefunden wird, dann gehe man leider nicht immer mit der gebotenen Transparenz damit um, kritisiert die Medizinhistorikerin: So wurden im Sommer 2014 auf dem Gelände der Freien Universität Berlin Knochenreste vermutlich von Holo- caust-Opfern entdeckt. Wenige Monate später waren die Knochen schon eingeäschert.
Die Medizinerin hat sich bereits während ihres Studiums in Deutschland für die Vergangenheit ihres Faches zu interessieren begonnen – und habe „schon damals nicht verstanden, wie so intelligente Leute so furchtbare Dinge tun konnten“. In den 1980erJahren begann die Aufarbeitung aber erst langsam – und wurde vor allem von Journalisten und Historikern wie Michael Kater, Ernst Klee oder Götz Aly vorangetrieben.
In der Medizin selbst herrschte damals mit wenigen Ausnahmen noch das große Schweigen, wie Hildebrandt in ihrem im Vorjahr erschienenen Buch Anatomy of Murder schreibt, der ersten umfassenden Analyse der NS-Verwicklungen von Anatomen, die das NS-Regime als einmalige Chance sahen, an „Material“zu kommen: Tausende Leichen von hingerichteten Personen landeten in Anatomieinstituten des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete. Besonders begierig war man an der Uni Wien, wohin 1377 Hingerichtete geliefert wurden.
An der Wiener Anatomie hatte der Nationalsozialist Eduard Pernkopf das Sagen, und er war es auch, der in ganz besonderer Weise von den Leichen profitierte: Pernkopf, ab 1938 Dekan der Medizinischen Fakultät und ab 1943 Rektor der Uni Wien, gab einen mehrbändigen Anatomie-Atlas heraus, und für dessen bis heute einzigartige Zeichnungen wurden auch Leichen von NS-Opfern verwendet.
„Der Pernkopf-Atlas war nach 1945 für viele Jahrzehnte der am höchsten geschätzte Atlas nicht nur für Anatomen, sondern auch für HNO- und Kieferchirurgen“, sagt Hildebrandt, die nicht zuletzt durch die internationalen Diskussionen um dessen Entstehungsgeschichte in den 1990er-Jahren weiter für das Thema sensibilisiert wurde. Auf ausländischen Druck befasste sich damals auch die Uni Wien damit und legte 1998 in einem Bericht alle noch verfügbaren Fakten zum Altlas offen,
Dass NS-Anatomen von den Hinrichtungen profitierten, war in der Geschichte des Fachs indes nichts Neues. „Das gab es schon in den Jahrhunderten zuvor“, so Hildebrandt. Neu war aber die aktive Einbindung der Anatomen, wie sie am Beispiel von Hermann Stieve zeigt, der sich mit der Beeinflussung des Hormonzyklus von Frauen befasste. Stieve konnte für seine Forschungen auf die Leichen von Widerstandskämpferinnen zurückgreifen, die in BerlinPlötzensee ermordet wurden – vermutlich so koordiniert, dass Stieve alles Nötige über den Zyklus der Ermordeten wusste.
Komplizierte ethische Fragen
Wie man mit dem so gewonnenen medizinischen Wissen und den Präparaten aus der NS-Zeit heute umgehen soll, wird Hildebrandt in ihrem Beitrag am Ende des Symposiums diskutierten. Das kann in manchen Fällen ganz schön kompliziert werden, wie die Medizinhistorikerin am Beispiel des Pernkopf-Atlas erläutert.
Die renommierte US-Neurochirurgin Susan Mackinnon, die seit 35 Jahren für ihre komplizierten rekonstruktiven Operationen mit dem Atlas arbeitet, wollte Anschauungsvideos für Mediziner in Kriegsgebieten herstellen und dafür auch Pernkopf-Illustrationen zeigen. Doch der Verlag Elsevier, der die Rechte am Pernkopf-Atlas hält, untersagt jede Reproduktion.
In Wien soll nun eine Ausnahmegenehmigung diskutiert und auch erwirkt werden – „weil es darum geht“, so Hildebrandt, „mit den Bildern Leben zu retten“.
Sabine Hildebrandt, „The Anatomy of Murder. Ethical Transgressions and Anatomical Science during the Third Reich“, 390 Seiten / € 113,95, Berghahn, New York / Oxford 2016