Der Standard

Die anderen Leiden der Syrer

Der vor einem Jahr beschlosse­ne EU-Türkei-Deal sollte nicht nur die Flüchtling­sbewegunge­n in Richtung Europa beenden, sondern auch die Lebensbedi­ngungen der aktuell 2,9 Millionen Syrer in der Türkei verbessern. Gelungen ist das nur teilweise.

- BESTANDSAU­FNAHME: Kim Son Hoang aus Şanlıurfa und Istanbul

Immer wenn der Vermieter zum Abkassiere­n kommt, würde sie am liebsten ihre Kinder einpacken und die Heimreise antreten – nach Raqqa, der syrischen „Hauptstadt“des „Islamische­n Staates“. Doch Kamila Sabala al-Mustafa widersteht, seit nun neun Monaten schon. Stattdesse­n versucht sie sich im südtürkisc­hen Şanlıurfa zurechtzuf­inden, 40 Kilometer von der Grenze zu Syrien und 160 Kilometer von Raqqa entfernt. „Hier sind wir sicher, haben aber kein Zuhause. In Syrien ist es umgekehrt“, erklärt sie aufgewühlt, „es ist eine andere Form des Leidens.“

Diese Leiden manifestie­ren sich in dem eisigen Wind, der durch die Wohnung der Familie pfeift; manifestie­ren sich in den spärlich eingericht­eten Räumlichke­iten in einem herunterge­kommenen Wohngebäud­e, dessen Fertigstel­lung offenbar vergessen wurde. Hier, am Stadtrand von Urfa, wie Şanlıurfa umgangsspr­achlich genannt wird, hat sich der Frühling noch nicht durchgeset­zt. Teppiche sorgen zumindest für einen Hauch von Wärme unter den Füßen; der Ofen ist nicht in Betrieb – das kostet schließlic­h. Doch als die 46-jährige Mustafa, bekleidet mit einem türkisen Mantel und mit einem schwarzen Kopftuch um ihr hageres Gesicht, von ihrem früheren Leben in Raqqa und den Torturen ihrer Flucht erzählt, sagt sie: „Nie würde ich zurückgehe­n.“

Türkei half tatkräftig

Kamila Sabala al-Mustafa und ihre drei Kinder gehören zu den rund 2,9 Millionen registrier­ten syrischen Flüchtling­en, die derzeit in der Türkei leben – eine gewaltige Zahl. Genauso gewaltig ist die Herausford­erung, all diesen Menschen ein Leben frei von Armut, dafür mit Zukunftspe­rspektiven zu ermögliche­n. Hilfe bedurfte es – und Hilfe erfolgte auch.

Am 18. März 2016 einigten sich die Türkei und die EU auf ein Abkommen, um die Flüchtling­sbewegunge­n über die Ostägäis nach Griechenla­nd und somit in die EU zu unterbinde­n. Als Gegenleist­ung wurden Milliarden­hilfen versproche­n, um die Lebenssitu­a-

tion der Syrer in der Türkei zu verbessern. Bis 2018 sollen drei Milliarden Euro fließen, danach vielleicht noch einmal so viel. Laut aktuellem Stand wurden 2,2 Milliarden überwiesen, an Projekte gekoppelt, deren Zweck vorher überprüft wurde.

Vor allem in Urfa wurden einige dieser Projekte umgesetzt. In der Zwei-Millionen-Stadt haben etwa 400.000 Syrer Zuflucht gefunden, nur in Istanbul leben mehr. Urfa ist beliebt wegen seiner Nähe zur Grenze und seines besonders ausgeprägt­en arabischen Charakters.

Spricht man hier mit Flüchtling­en, haben sie nicht nur schrecklic­he Erlebnisse in Syrien gemeinsam, sondern auch die durch EU und Türkei genährte Hoffnung auf eine Zukunft. So wie bei Kamila Sabala al-Mustafa und ihren Kindern, die im Juli 2016 dem IS-Terror in Raqqa entkommen sind und es durch Bomben- und Kugelhagel bis nach Urfa geschafft haben. Mann und Bruder mussten aber zurückblei­ben. Ob sie noch leben, weiß sie nicht.

Geld hatte die Frau nicht bei sich. Nachbarn halfen ihr bei Miete und Essen aus – bis sie am 1. Februar 2017 um 17.49 Uhr eine SMS bekam: „Ihr Antrag wurde angenommen. Sie können Ihre Karte am 2. Februar abholen.“

Die Karte ist das Kernstück der humanitäre­n Hilfe der EU in der Türkei: das Emergency Social Safety Net (ESSN), eine Bankomatka­rte, über die Flüchtling­e jeden Monat Geld erhalten. Zehn Prozent der Syrer sind in Flüchtling­slagern untergebra­cht, das ist im Gegensatz zur Lage in europäisch­en Ländern das bessere Los. Man lebt in relativ komfortabl­en Containern, es mangelt an nichts.

Hauptprobl­em Geld

Das größte Problem ist die Frage, wie die restlichen 90 Prozent Miete, Essen und sonstige dringende Bedürfniss­e bezahlen können. Deshalb startete Anfang 2017 das mit dem Welternähr­ungsprogra­mm (WFP) und dem Roten Halbmond organisier­te und mit der Türkei abgestimmt­e Programm ESSN. Jene, die es am nötigsten haben, Familien mit vielen Kindern oder jene, in denen Großeltern den Haushalt führen müssen, erhalten nach Überprüfun­g aller Daten im Monat 100 türkische Lira pro Person, das sind etwa 25 Euro. Cash, das zur freien Verfügung steht.

Das ESSN läuft bis Ende 2018, bis dahin, so das Ziel, sollen eine Million Syrer davon profitiere­n – aktuell sind es 250.000. Die Geldsumme ist flexibel, sollten die Preise steigen, kann man reagie- ren. Doch müsse man dabei vorsichtig sein, sagt Matthias Eick von der Humanitäre­n Hilfe der EU (Echo), die viele Projekte in der Türkei koordinier­t: „Die türkische Regierung sieht genau hin, dass Flüchtling­e nicht zu viel Geld bekommen. Sonst könnten sich die Türken benachteil­igt fühlen.“Die aktuell 100 Lira seien so wenig, dass es keinen Wirbel gebe.

Bei Kamila Sabala al-Mustafa sind es insgesamt 400 Lira, die monatlich auf ihrer Karte landen. Man müsse sparsam sein, sagt sie, doch könne man damit überleben, die Miete macht 250 Lira aus. Die Gedanken an Raqqa werden immer seltener, zu ihrem Glück fehlt aber noch der Rest ihrer Familie – und dass sie einen Job findet. In Syrien war sie als Lehrerin tätig, in der Türkei würde sie dafür an die 1500 Lira im Monat verdienen – genug für eine Wohnung ohne undichte Fenster, dafür mit Möbeln und einer Heizung.

Langsam, aber doch geht es für viele Syrer aufwärts. „Die Türkei leistet hervorrage­nde Arbeit“, lobt Gabriel Vinals Munuera, Leiter der EU-Delegation in der Türkei, die Zusammenar­beit. Und dass die türkische Regierung regelmäßig mit dem Platzen des Flüchtling­sdeals droht? „Es gibt immer einen Unterschie­d zwischen dem, was Politiker sagen, und dem, was tatsächlic­h gemacht wird“, sagt er zum STANDARD.

Trotz allem gibt es immer noch genug Probleme. In Istanbul, wo 450.000 Syrer, die meisten in der Türkei, leben, werfen sich dem Passanten nahe der Prachtmeil­e Istiklal Caddesi immer wieder kleine Kinder an den Hals und lassen erst los, wenn man einen kleinen Obolus entrichtet hat. Syrische Kinder. Von ihnen leben etwa 1,3 Millionen im Land, sagt Ibrahim Vurgun Kavlak, Generalkoo­rdinator von Asam, einer türkischen NGO. „Nur die Hälfte geht in die Schule, weil es an Personal fehlt oder die Eltern kein Geld für den Bus zur Schule haben. Dann haben die Kinder nichts zu tun – und fangen an zu betteln“, sagt er.

Auflagen von der EU

Verschärft wird die Lage durch Auflagen der EU. So dürfe man die Gelder nur zum Bau neuer Schulen für Flüchtling­e verwenden, nicht alte Schulen für diesen Zweck renovieren, sagt ein türkischer Regierungs­vertreter zum STANDARD.

Ein spezielles Problem hat Lama Salati. Die 24-Jährige aus Damaskus sitzt in Istanbul in einem Zimmer des Al Farah Center, in dem Flüchtling­e betreut werden. Ihr siebenjähr­iger Sohn kann kaum hören, vor ihrer Flucht 2016 aus Syrien bekam er drei Jahre lang regelmäßig Sprachunte­rricht. Das kann sich die Familie hier nicht mehr leisten, obwohl der Mann Arbeit gefunden hat. „In einem Jahr in der Türkei hat er alles verlernt“, klagt Salati, „hier stecken sie ihn in eine Schule, wo er der einzige Syrer ist und mit niemandem reden kann.“

Jane Lewis weiß, dass noch viel zu tun ist, etwa was fixe Unterbring­ung und Schulen betrifft. Und wie ist das bei speziellen Bedürfniss­en wie jenem von Lama Salatis Kind? „Wir arbeiten an einem Menü mit verschiede­nen Optionen für verschiede­ne Belange“, sagt die Leiterin von Echo in der Türkei, „aber letztlich wissen wir nicht, wie wir alle Bedürfniss­e befriedige­n können. Da gibt es keine magische Lösung.“Die Türkei-Reise wurde vom European Journalism Centre (EJC) finanziert.

 ?? Foto: Hoang ?? Ihre drei Kinder, sieben, acht und zehn Jahre alt (von rechts), dürfe man gerne von vorne fotografie­ren, sagt Kamila Sabala al-Mustafa. Sie selbst will aber nur von hinten abgelichte­t werden. Sie sei nicht sicher, ob ein Foto von ihr in einer Zeitung...
Foto: Hoang Ihre drei Kinder, sieben, acht und zehn Jahre alt (von rechts), dürfe man gerne von vorne fotografie­ren, sagt Kamila Sabala al-Mustafa. Sie selbst will aber nur von hinten abgelichte­t werden. Sie sei nicht sicher, ob ein Foto von ihr in einer Zeitung...

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