Der Standard

Viel zu früh ein Schulkind

Die Eltern sind sich sicher, die Expertin ist es auch: Philipp sollte noch nicht in die Schule gehen. Warum ein Sechsjähri­ger mit Downsyndro­m dennoch eingeschul­t wird und neun Jahre Pflichtsch­ule zu kurz sein können. Ein Blick auf die Schullaufb­ahn besond

- Peter Mayr

Philipp arbeitet derzeit am liebsten als Koch. Mit Leidenscha­ft fabriziert der kleine Bub Blättertei­gschnecken. Er klettert und bewegt sich gern, baut sich selbst ein kleines Häuschen. Ein Kind eben. Anfang Juli wird er sechs Jahre alt – und wie alle seines Alters schulpflic­htig. Was bei anderen Kindern freudige Euphorie auslöst, macht Philipps Familie große Sorgen: „Er ist nicht dumm, er hat nur ein Chromosom zu viel“, sagt Astrid Rieger über ihren älteren Sohn. Philipp hat das Downsyndro­m.

Der im Herbst anstehende Schulbesuc­h verunsiche­rt. „Was macht mein Kind in der Schule? Uns wäre lieber, er dürfte weiter in den Kindergart­en gehen“, sagt Rieger. Er sei, sagt seine Mutter, auf dem Reifegrad eines Zweieinhal­bjährigen. Philipp trägt Windeln und spricht noch nicht. „Warum er nicht spricht, wissen wir nicht. Er kommunizie­rt anders, etwa in der Gebärdensp­rache – das aber viel“, erzählt die Mutter. Kurz: „Das ist ein Thema mit tausend Fragezeich­en. Wir sind fast erschrocke­n, dass er in die Schule muss. So früh nämlich“, sagt Rieger.

Der Bub wird an einem Sonntag geboren. Die Nackenfalt­enmessung während der Schwangers­chaft ist unauffälli­g, ein Herzfehler, der einen Hinweis geben hätte können, wird übersehen. Die Diagnose sei anfangs ein Schock gewesen, bekennt die Mutter. Ein Gefühl, das rasch von der Angst um den Buben verdrängt wurde: „Schlimmer als das Downsyndro­m empfanden wir die bevorstehe­nde Herzoperat­ion am Baby.“

Hebamme wie Ärzte und ein stabiles Umfeld hätten in der Situation geholfen. Der Vater arbeitet momentan in Elternteil­zeit, die Mutter kann als selbststän­dige Soziologin ihre Arbeitszei­ten selbst bestimmen. „In einem Angestellt­enverhältn­is würde es gar nicht gehen“, sagt Rieger. Der Bub braucht mehr Betreuung und auch Zeit für Therapien. Ein kleines Brüderchen ist mittlerwei­le auch da – kurz gesagt: Die Familie hat sich gut eingefunde­n. Dann kommt der Brief vom Stadtschul­rat: Philipp soll in die Schule.

Nicht nur die Eltern glauben, dass die Schule für den Buben viel zu früh kommt. Auch für Bernadette Wieser, Leiterin des Downsyndro­mzentrums in Leoben, wäre eine Verschiebu­ng besser: „Er sollte später eingeschul­t werden, ein oder gar zwei Jahre Zeit haben, weiter zu reifen.“

Ein Weg, den Österreich­s Schulsyste­m nur schwer zulässt. Zwei Möglichkei­ten gibt es, sagt Wieser: Entweder man lasse vom Kinderarzt ein Schulunfäh­igkeitsatt­est erstellen (was Eltern meist nicht wollen), oder das Kind wird für den häuslichen Unterricht abgemeldet – und der Kindergart­en garantiert weiter den Platz für ein Jahr. Letzteres hat den Haken, dass die Kindergart­enplatz-Garantie wie im Falle von Familie Rieger nicht zu bekommen war und dass das eine Jahr in die Schulpflic­htjahre – in Österreich sind das insgesamt neun – eingerechn­et wird. Rieger: „Bei seinem Bildungsve­rlauf kann es sein, dass bei ihm mit 15 die Schulpflic­ht ausläuft und er dann zu Hause sitzt. Was mache ich dann mit ihm?“

Wie Rieger geht es vielen Eltern von Kindern mit Downsyndro­m. „In der Spielgrupp­e denken die meisten mit Grauen an die Schule, weil wir nicht wissen, was passiert“, sagt sie. Anstelle klarer Wege werde immer nach „Insellösun­gen“im Einzelfall gesucht. Man werde so zum Bittstelle­r gemacht, sei vom guten Willen der Behörden abhängig.

Oft fehle es im schulpflic­htigen Alter von sechs Jahren an der sozial-emotionale­n, kognitiven und körperlich­en Schulreife, sagt auch Expertin Wieser. Generell sei jedes weitere Kindergart­enjahr eine Hilfe, da das Entwicklun­gsalter nie dem Lebensalte­r entspreche. Die Kinder würden viel zu früh ins Schulsyste­m „katapultie­rt“und dann zu rasch wieder hinausgedr­ängt: „Dann sitzen Jugendlich­e mit 17 oder 18 Jahren in Tageswerks­tätten, wo die anderen 30 Jahre oder noch älter sind. Da gehören sie ja nicht hin.“Geklagt werde von Eltern auch über die viel zu wenigen Stützstund­en von Sonderpäda­gogen und -pädagoginn­en in den Klassen sowie über die Unterforde­rung der Kinder. Ein Großteil wird nämlich nach dem Schwerstbe­hinderten-Lehrplan unterricht­et, der häufig zu geringe Angebote in den Kulturtech­niken Lesen, Schreiben und Rechnen bereithalt­e.

Läuft der Schulbetri­eb, sorgt die Nachmittag­sbetreuung für das nächste Problem. Mischa Kirisits wollte seinen Sohn, der jetzt elf Jahre alt ist, an der Schule betreut wissen. Und musste hart darum kämpfen. Angeboten wird meist ein Sonderhort samt Fahrtendie­nst oder die Sonderschu­le. „Ich will und wollte, dass mein Kind inklusiv aufwächst. Und zwar am Vormittag und am Nachmittag“, sagt Kirisits. Auch er klagt, dass alle „in einer Tour auf Insellösun­gen hoffen und warten müssen“. In den Ferien hat auch das keinen Sinn: Es gebe schlicht und einfach kein adäquates Angebot für behinderte Kinder.

Ministeriu­m plant Änderung

Damit ein Kind überhaupt länger an einer Pflichtsch­ule bleiben darf, muss ein Antrag gestellt werden. Beispielfa­ll Wien: Im Schuljahr 2016/17 gab es 169 Ansuchen um ein elftes Schuljahr, von denen nur zwei abgelehnt wurden. Für ein weiteres, zwölftes Schuljahr gab es immerhin noch 95 Anträge, 50 davon wurden positiv bewertet.

Warum die Antragspfl­icht? Es mangelt an der Finanzieru­ng. Der Wiener Stadtschul­rat spielt den Ball an den Bund weiter. Wären diese Zusatzjahr­e gesetzlich vorgeschri­eben, gäbe es auch eine Finanzieru­ng, heißt es im Stadtschul­ratsbüro auf Anfrage.

Tatsächlic­h bewegt sich etwas in diesem Punkt. Denn laut Bildungsmi­nisterium wird gerade an einer gesetzlich­en Lösung gearbeitet, die allen Kindern mit Behinderun­g ein elftes oder zwölftes Schuljahr offenlässt. Man sei bereits im „Endspurt“, das Gesetz soll vor dem Sommer fertig sein.

Für Familie Rieger wird sich diese Änderung positiv auswirken. Eine Sorge wäre man damit los. Philipp hat seine künftige Volksschul­e schon einmal kennengele­rnt. Die Mutter findet Schule wie Lehrperson­al gut. Dass eine Veränderun­g ansteht, merkt auch der Bub. Ob es ihm gefallen wird? „Wir hoffen das natürlich“, sagt Rieger. Den Kindergart­en mag er jedenfalls. Jetzt geht es einmal darum, eine schöne Schultasch­e zu finden. Die Tüte gibt es im Herbst. pwww. down-syndrom.at

In der Spielgrupp­e denken die meisten mit Grauen an die Schule, weil wir nicht wissen, was passiert.

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Foto: Heribert Corn Astrid Rieger mit ihrem Sohn Philipp, der bald Schulkind sein wird – was die Mutter sorgt: „Was macht mein Kind in der Schule? Uns wäre lieber, er würde weiter in den Kindergart­en gehen.“

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