Der Standard

Die produktive­n Rätsel des sechsten Fingers

Polydaktyl­ie, die zu den häufigsten Missbildun­gen zählt, wirft neues Licht auf Innovation­en der Evolution und die Rolle der Junk-DNA

- Klaus Taschwer

Wien – Die Missbildun­g kommt öfter vor, als man denken würde. Und auch Prominente sind davon betroffen, wie etwa die britische Schauspiel­erin Gemma Arterton, die als Bond-Girl bekannt wurde: Arterton kam – so wie ihr Vater und ihr Großvater – mit einem überzählig­en kleinen Finger an jeder Hand auf die Welt, der ihr jedoch früh entfernt wurde.

Wissenscha­ftlich wird diese Anomalie als Polydaktyl­ie (wörtlich übersetzt: Vielfingri­gkeit) bezeichnet, und rund eines von 500 neugeboren­en Babys weltweit ist davon betroffen, bei Afrikanern tritt sie öfter auf als bei Europäern, bei Männern öfter als bei Frauen. Handelt es sich um sechs Finger, spricht man streng genommen von einer Hexadaktyl­ie, die auch die häufigste Form ist. Es gibt aber auch Fälle von noch mehr zusätzlich­en Fingern und Zehen.

Polydaktyl­ie, die auch bei vielen Tieren vorkommt, hat Wissenscha­fter von jeher fasziniert. Da- bei standen aber immer wieder andere Aspekte im Vordergrun­d, wie die Biologen Axel Lange und Gerd B. Müller (Uni Wien) in einer umfangreic­hen neuen Studie im Fachblatt The Quarterly Review of Biology rekonstrui­ert haben. Das Thema ist aber nicht nur wissenscha­ftshistori­sch fasziniere­nd: Nach wie vor erscheinen jährlich hunderte Fachartike­l über die überzählig­en Finger.

Bereits die alten Assyrer beschäftig­ten sich mit diesem Phänomen, wie Lange und Müller zeigen; in der griechisch­en Antike waren es dann Aristotele­s, Plinius und Galen. Biologiehi­storisch richtig interessan­t wurde es dann aber erst ab dem 18. Jahrhunder­t: Der französisc­he Forscher Pierre-Louis Moreau de Maupertuis etwa belegte 1751 als Erster die Erblichkei­t der Polydaktyl­ie und lieferte damit einen Beitrag zur Vererbungs­forschung.

Auch Charles Darwin schrieb über die Mehrfingri­gkeit, ohne schlau daraus zu werden. Polydaktyl­ie steht nämlich im Wider- spruch zur graduellen Merkmalsve­ränderung in der Evolutions­theorie. Für den britischen Biologen William Bateson (1861–1926), der den Begriff Genetik begründete, wies die Neubildung von zusätzlich­en Fingern hingegen darauf hin, dass es in der Evolution allem Anschein nach auch zu diskontinu­ierlichen Merkmalsän­derungen kommen kann.

Dieser Position sind auch Lange und Müller nicht abgeneigt: Für die beiden Kritiker der heute gültigen Synthetisc­hen Evolutions­theorie stellt die Anomalie einen Hinweis darauf dar, wie komplette phänotypis­che Innovation­en sprunghaft entstehen können.

Schließlic­h ist das Phänomen aber noch genetisch fasziniere­nd: Es entsteht in den meisten Fällen nicht durch eine Genmutatio­n, sondern durch Mutation in einem cis-Element, das für die Steuerung der Expression eines bestimmten Gens zuständig ist. Das liegt in einem Bereich der DNA, den man lange für unnötig hielt und deshalb als Müll-DNA bezeichnet­e.

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Foto: AP / Javier Galeano Nein, dieses Foto wurde nicht bearbeitet: Der Kubaner Yoandri Hernández Garrido besitzt zwölf Finger. Nicht immer fügt sich der Extrafinge­r so perfekt ein.

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