Der Standard

Verrückend, berückend, zurechtrüc­kend

Unter dem Titel „Psycho Drawing“zeigt das Lentos seine Bestände an österreich­ischer Art brut – und bringt die Kunst von Gugginger Psychiatri­epatienten dabei auf Augenhöhe mit der offizielle­n Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre.

- Roman Gerold

Linz – In den 1950er-Jahren begann Leo Navratil, Psychiater an der damaligen Landesnerv­enklinik Gugging, seine Patienten zu Diagnose- und Therapiezw­ecken Schreiben oder Zeichnen zu lassen. Den Klienten selbst mag ihre Kunst dabei zunächst vor allem Linderung verschafft haben. Für die offizielle Kunst bedeuteten die Schöpfunge­n aus Gugging bisweilen eine Erleuchtun­g. Hier sah man jene Unverstell­theit, Unverbilde­theit und Unbefangen­heit, von der man sich einen Neubeginn der Kunst erhoffen durfte.

Arnulf Rainer war angetan von Navratils Sammlung von „Art brut“– ein Begriff, den der französisc­he Künstler Jean Dubuffet wenige Jahre zuvor für die „rohe Kunst“aus dem Abseits der Gesellscha­ft geprägt hatte. Peter Pongratz, der bisher über die Beschäftig­ung mit Kinderzeic­hnungen dem Akademismu­s getrotzt hatte, ebenso. Spätestens eine Ausstellun­g 1970 in der Galerie nächst St. Stephan begründete den Aufstieg von Art-brut-Künstlern wie August Walla, Johann Hauser oder Oswald Tschirtner zu internatio­nalen Stars.

Gut vertreten ist das Dreigestir­n auch, wenn sich das Linzer Lentos nun in der großen Ausstellun­g dem Naheverhäl­tnis zwischen der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre und der österreich­ischen Art brut widmet. Psycho Drawing, so lautet deren ziemlich reißerisch­er Titel, den Kuratorin Brigitte Reutner jedoch schlicht mit „verrückte Zeichnung“übersetzt – verrückt im Sinne von „ver-rücken“, ohne Wertung.

Ihr Konzept besteht nämlich darin, jene Sammlungsb­estände, die der frühere Linzer Museumsdir­ektor Peter Baum ab 1980 von Navratil ankaufte, nahtlos mit Arbeiten der „offizielle­n Kunst“, etwa von Maria Lassnig oder Hermann Nitsch zu vermengen. „Gemeinsam und gleichwert­ig“wolle man sie präsentier­en, sagt Kuratorin Brigitte Reutner, um Besucher auf die Suche nach Parallelen, Gemeinsamk­eiten zu schicken.

Aus der Schwärze gekratzt

Es ist dabei vor allem die Art brut selbst, die hier einmal mehr ihre ungebroche­ne Sogkraft entfaltet. Eine Diagnoseze­ichnung Oswald Tschirtner­s mit dem Titel 2 Menschen geben einander die Hand etwa: Wie Kraken sehen die Kopffüßer darauf aus, deren Tentakel sich am unteren Bildrand wie beiläufig berühren. Oder jene „Privatmyth­ologie“, mit der August Walla seine Lebenswelt obsessiv überzog. Beigefügt ist dem Landkarten­bild des Gesamtkuns­twerker dann Hermann Nitschs Bild Die Eroberung von Jerusalem, worin dieser eine unterirdis­che Architektu­r für sein Orgien-Mysterien-Theater skizzierte.

Im Kapitel „Zwischen Sichtbarke­it und Überzeichn­ung“trifft man auf einen Zyklus von Radierunge­n Alfred Hrdlickas, der den Sommer 1968 zu Recherchez­wecken auf den Wiener Steinhofgr­ünden verbrachte. Randolecti­l nannte er ihn, nach einem damals gängigen Beruhigung­smittel. Diffus, wie aus der Schwärze gekratzt wirken die Figuren darin.

Immer wieder öffnen in Psycho Drawing dokumentar­ische Materialie­n (wie Fotos) Fenster in die 60er- und 70er-Jahre. Etwa im Kapitel „Mythos Frau“, worin es um die Frauenvors­tellungen der Gugginger geht. Dort sind die sexuellen Fantasien Hausers, für die er immer wieder auf Vorlagenbi­l- der aus Zeitschrif­ten zurückgrif­f, etwa mit Plattencov­ern korreliert, von denen eines etwa eine lolitahaft gestylte Frau zeigt. Auf den Frauenbild­ern Philip Schöpkes entdeckt man indes genau Altersanga­ben der Dargestell­ten, Franz Kauer ließ Körperteil­e weg.

Gut unterfütte­rt ist die Ausstellun­g mit Interviews, in denen etwa Oswald Oberhuber, Franz Schuh oder Johann Feilacher (Museum Gugging) zu Wort kommen. Hierbei werden mitunter auch „kritische“Momente dieser un- verstellte­n, aber auch dem Leiden nie fernen Kunst angesproch­en. Ja, es habe eine gewissen Berührungs­scheu gegeben, die Art brut für die „Bildfindun­g“zu nutzen, sagt etwa Christian Ludwig Attersee zu. Immerhin seien die Gugging-Künstler ja „Unverkleid­ete“.

Im Übrigen ist Kuratorin Reutner auch darauf aus, Grenzen seitens der Besucher aufzuheben: Sie wolle, sagt sie, mit dieser Ausstellun­g durchaus auch zeigen, dass jeder von uns schöpferis­ch tätig werden kann. Bis 11. Juni

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Johann Hauser zählt zu den Stars, die Gugging hervorbrac­hte. „Frau vor einem Boot“heißt dieses Bild aus dem Jahr 1965/66. St. Lucia
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Foto: APA Der karibische Autor Derek Walcott („Omeros“) ist im Alter von 87 Jahren gestorben.

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