Radikaler Chronist einer ungeheuerlichen Welt
Die Galerie Kopriva Krems macht sich um die Wiederentdeckung und Aufarbeitung bedeutender österreichischer Nachkriegskunst verdient. Nun stellt sie den österreichischen Grafiker, Maler und Bildhauer Gottfried Muhr (1939–2013) in den Fokus.
Krems – Es gibt solche und solche Bildtitel. Und dann gibt es noch die von Gotthard Muhr: Arsch beispielsweise; oder Arsch brennt. Der österreichische Grafiker, Maler und Bildhauer mochte es gern explizit. Schönfärberei war seine Sache nicht, weder in seiner Kunst noch in seinem Wesen. Museumsdirektoren, Kulturfunktionären, Kuratoren, Kollegen und Kritikern fuhr er mitunter gern mit jenem Körperteil ins Gesicht, der manchen seiner Bilder den Namen gab.
Sich selbst vermarkten, gute Kontakte zum Kunstmarkt pflegen? Er nicht. Da pflegte er lieber sein Image als trinkfreudiger – und gastfreundlicher – Bohemien, der lieber mit wenig Geld als mit vielen Kompromissen lebte und arbeitete. Und der sich sommers zum Malen und Bildhauern auf seine Meierei im burgenländischen Großhöflein zurückzog.
Vielleicht war auch das mit ein Grund, warum ein so vielseitiger Künstler, der schon in sehr jungen Jahren mit Preisen ausgezeichnet und auf Biennalen und internationalen Museums- und Galerienausstellungen herumgereicht wurde, mit zunehmendem Alter buchstäblich von der Bildfläche verschwand.
Keine Frage, das kränkte ihn. Seinen Stil – weder den seiner mitunter verstörenden, immer aufregenden, oft (selbst-)ironischen Kunst noch den seines Umgangs mit den Proponenten dessen, was man gemeinhin „Szene“nennt – änderte er deshalb nicht.
Zwischen Woher und Wohin
Gotthard Muhr war ein unbeugsamer und konsequenter Künstler. Einer, der sein Vokabular weiterentwickelte. Und der mit handwerklicher Könnerschaft die Anschauung von Natur in philosophisch grundierte Kunst transformierte. Muhr kopierte die Realität nie, er verwandelte, deformierte, überhöhte und, ja, persiflierte sie – und sich genauso.
Zum aus der Haut fahren (Aquatinta und Kaltnadel) ist dafür ebenso Beispiel wie seine Aggressionsspritze (ebenfalls Aquatinta und Kaltnadel). Standfest ist der bitter-ironische Titel einer Kaltnadelradierung, die einen Menschen darstellt, dessen Füße in Beton gegossen sind. Künstlerisch auf der Stelle zu treten, in gesellschaftlichen, geschmäcklerischen oder vom Kunstmarkt diktierten Normen gefangen zu sein war sein ganz persönlicher Albtraum.
Der mit Irrungen und Wirrungen, mit Gewalt, Verzweiflung ebenso wie mit sensibler Verletzlichkeit gepflasterte Weg zwischen Woher und Wohin: Es waren die existenziellen Fragen allen irdischen Lebens, die ihn umtrieben. Muhr arrangierte Totenschädel, abgetrennte Gliedmaßen, zerrupfte Vogelkadaver, geschundene Kreaturen, Würmer, Gabeln, Messer, Rümpfe zu abgründigen, gleichermaßen faszinierenden wie schockierenden Stillleben.
„Die Realität ist für ihn nur äußerst begrenzt das Gegebene, sondern vielmehr das Hergestellte. Und das, was sein Körper, seine Arme, seine Hände, Augen, seine Sinne draus machen“, formulierte der Schriftsteller Helmut Eisendle (1939–2003) im Jahr 1994: „Er bringt uns – dem Betrachter – das Fremde nahe.“Das Fremde, Unheimliche, das waren auch all die Fantasiefiguren, mit denen er sein grafisches, malerisches und skulpturales Kunstuniversum bevölkerte: Kentauren und Minotauren, Faune und Gnome, Basilisken und Chimären.
„Insgesamt wirken die Bilder wie Drohgebärden, die der große Medizinmann ausführt“, schrieb der Germanist Friedbert Aspetsberger 1989 anlässlich einer Ausstellung in der Wiener Secession, deren Vorstandsmitglied Muhr über Jahre war.
Zwischen Goya und Art brut
Der Kunstkritiker Kristian Sotriffer (1932–2002) verortete Muhr zwischen Goya und Art brut, Peter Baum stellte ihn eine Reihe mit Egon Schiele und Oskar Kokoschka, Alfred Kubin und Richard Gerstl. Zwischen 1976 und 2000 unterrichtete Muhr auch als Lehrbeauftragter an der Akademie der bildenden Künste.
Hier hatte der Sohn eines Sargtischlers und Leichenbestatters aus Schwanenstadt in Oberösterreich Ende der 1950er-Jahre zu- nächst die Meisterklasse Max Melchers, später die Meisterschule für Medailleurkunst besucht und parallel dazu an der Universität Wien Philosophie studiert.
In den 1960er-Jahren machte er als meisterhafter Grafiker von sich reden. Die Albertina kaufte dem damals 26-jährigen Künstler die ersten Aquatintablätter ab. Als Bildhauer verarbeitete er alte Pressbalken, Lehmziegel, Gips, Holz, Stein, Findlinge zu seinem Bestiarium.
Dennoch wurde er – wie sein ehemaliger Studienkollege, der spätere Museumsdirektor Edelbert Köb, sich erinnerte – allseits nur als „der Maler Muhr“tituliert. Damit sei nicht der Kunstmaler gemeint, sondern „der Prototyp Künstler an sich. Dieser unterscheidet sich von gewöhnlichen Malern, Bilderhauern und Spezialisten jeder Art, damit auch von anderen phonetisch gleichen Muhrs verschiedenster Schreibweisen und überhaupt von jeder Gattung Mensch.“