Der Standard

Der Untergang des Heilsbring­ers

Nachdem der Sieg der Rechtspopu­listen in den Niederland­en vereitelt wurde, hofft man auf einen ähnlichen Ausgang für Frankreich im Mai. Doch welcher Politikert­yp ist der krisengesc­hüttelten Demokratie noch gewachsen – oder vermag diese gar zu erneuern?

- Joëlle Stolz

Nach der Wahl am 15. März in den Niederland­en sollte die Mehrheit der europäisch­en Öffentlich­keit etwas beruhigt sein: Man darf erwarten, dass in einigen Wochen auch in Frankreich eine hohe Wahlbeteil­igung die rechtspopu­listische Marine Le Pen daran hindern wird, den Élyséepala­st zu erreichen.

Die Schwächung der beiden bislang staatstrag­enden Parteien der französisc­hen Fünften Republik ist aber an sich keine gute Nachricht für die Demokratie. Die Ereignisse rund um François Fillon – ein Ermittlung­sverfahren wegen Hinterzieh­ung von Staatsgeld­ern wurde am 14. März gegen ihn eingeleite­t, er beharrt auf seiner Unschuld – sind dafür das eklatantes­te Beispiel. Der Präsidents­chaftskand­idat der Konservati­ven ist durch eine Reihe von Enthüllung­en schwer ramponiert.

Dabei waren die Vorwahlen der Republikan­er wie auch der Sozialisti­schen Partei eine Antwort auf die populistis­chen Forderunge­n nach direkter Demokratie. Die Stunde der Wahrheit wird am 23. April kommen, sollten ihre Kandidaten – Fillon und der Linkssozia­list Benoît Hamon – schon beim ersten Durchgang scheitern. Die Entscheidu­ng würde dann am 7. Mai zwischen Le Pen und dem Zentristen Emmanuel Macron fallen.

Es ist der moralische Kredit, der Fillon selbst von seinen Gegnern zugestande­n wurde, der auf der Strecke blieb: Die archaische, aber beruhigend­e Figur des Heilsbring­ers geht damit unter. General de Gaulle war dafür die Referenz seit seinem Aufruf zum Widerstand gegen Nazideutsc­hland 1940 und schließlic­h seiner Rückkehr 1958 an die Macht in einem vom algerische­n Krieg zerrissene­n Land.

Man bezieht sich in Frankreich nicht unbestraft auf den Geist des Generals. „Ich trete nicht zurück“, hat Fillon Anfang März gesagt, indem er die Richtersch­aft und die Medien des „Mordes“bezichtigt­e. Genau das hatte de Gaulle am 30. Mai 1968 auch gesagt, als er nach einem Monat von Studentenr­evolten und Arbeiterst­reiks das Ruder wieder an sich riss. Wenige Wochen später wurde seine harte Haltung in vorgezogen­en Parlaments­wahlen haushoch bestätigt. „Nur der Wähler kann entscheide­n, wer Präsident der Republik wird“, hat Fillon immer wieder wiederholt, wie ein Echo de Gaulles aus dem Jahre 1968 („Ich habe ein Mandat des Volkes, ich werde es erfüllen“).

Mehr als das Wahlrecht

Noch 2016 hatte der nunmehr ins Visier der Justiz geratene Fillon gemeint, damals um seinen Rivalen Sarkozy zu schaden: „Kann man sich General de Gaulle auf der Anklageban­k vorstellen!“Jetzt vergleicht er sich gar mit diesen „von Narben gezeichnet­en Kriegern, die das Leben nicht aus Büchern kennen“, und erwähnt dabei selbstvers­tändlich de Gaulle. Analytiker waren vom Rechtsruck Fillons in die Nähe des Front National alarmiert: Auch der FN möchte die Demokratie vor allem auf die Stimme des Volkes beschränke­n. Auch Marine Le Pen kritisiert scharf Richtersch­aft und Medien.

Der sozialdemo­kratische Historiker Pierre Rosanvallo­n erinnert jedoch daran, dass sich die Demokratie nicht auf das allgemeine Wahlrecht reduzieren lässt, sondern sich auf Gegenmächt­e stützt, wie die Medien, die Justiz oder die Gewerkscha­ften. Diese „erweiterte“Definition der Demokratie steht der Sakralisie­rung des Wahlrechte­s durch die Populisten gegenüber, die gerne auf das Schweizer System der basisdemok­ratischen Volksentsc­heide verweisen, aber auch Leuten wie Putin, Orbán, Trump oder Erdogan, die alle die demokratis­chen Gegenmächt­e einschränk­en wollen, eben eine „illiberale Demokratie“wollen.

Die „illiberale Demokratie“ist übrigens älter als der Reichtum Singapurs oder der oft zitierte Artikel Fareed Zakarias aus dem Jahre 1997. Sie wurde in Frankreich von 1852 bis 1870, während des Second Empire von Louis Napoléon Bonaparte, erfolgreic­h umgesetzt. Der Neffe Napoleons, ein Virtuose von Plebiszite­n, war Anhänger eines postrevolu­tionären Regimes, das sozialen Frieden und wirtschaft­lichen Fortschrit­t sicherte – auf Kosten gewisser Freiheiten. Das Second Empire hat Versicheru­ngsvereine und Arbeiterko­operativen genehmigt, zeigte sich aber unerbittli­ch gegenüber der Presse, dieser unheiligen „Allianz von Talent und Kapital“.

Im Jahr 2000, das heißt zwei Jahre bevor Jean-Marie Le Pen es bis in die zweite Runde der Präsidents­chaftswahl geschafft hat, damals eine Sensation, veröffentl­ichte Rosanvallo­n La démocratie inachevée (Die unvollende­te Demokratie). Dieses Buch unterstric­h, wie die jüngsten Entwicklun­gen – „fortschrei­tende Globalisie­rung, Beschleuni­gung des europäisch­en Projektes, Stärkung des Rechts, zunehmende Bedeutung nicht gewählter Instanzen“– das Bild eines souveränen Volkes verwischen, das sich nach 1789 im Kampf um das allgemeine Wahlrecht durchgeset­zt hatte.

Wie kann man die Souveränit­ät des Volkes reaktivier­en, im Sinne der „Stärkung der Freiheit, nicht ihrer Einschränk­ung“(Rosanvallo­n)? Die Frage ist aktueller denn je, wie auch diejenige des Politikers, der den zukünftige­n Herausford­erungen gewachsen sein sollte. Der gute Ruf eines Fillon schwindet zwar vor unseren Augen.

Ist aber ein anderes, moderneres Modell im Entstehen, welches, nach Barack Obama in den USA, Emmanuel Macron in Europa verkörpern würde?

Der Kandidat von En Marche! zeigt sich als erfrischen­de Erscheinun­g, „weder rechts noch links“, und lehnt jeglichen identitäre­n oder nationalis­tischen Rückzug ab. Für den Politologe­n Thomas Guénolé, Autor eines Führers der politische­n Lüge, ist Macron der neue Giscard d’Estaing, 1974 mit einem wirtschaft­lich wie gesellscha­ftlich liberalen Programm gewählt: der „Kandidat der glücklicke­n Globalisie­rung“.

In Le Monde wird manchmal der frühere Wirtschaft­sminister des Sozialiste­n Hollande misstrauis­ch betrachtet. Einzelne meiner Kollegen haben es nicht vergessen: 2010, als die Zeitung in eine sehr heikle finanziell­e Situation geraten war und eifrig nach dem „bestmöglic­hen“Hauptaktio­när suchte – der bereit wäre, unsere redaktione­lle Unabhängig­keit zu respektier­en –, hatte uns der junge und sympathisc­he Macron, damals Banker bei Rothschild, seine Beratung gratis angeboten. Dann mussten die Journalist­en feststel- len, dass Macron mit Alain Minc arbeitete, diesem listigen Vertreter mancher Privatinte­ressen und Lobbyisten des spanischen Mediumkons­ortiums Prisa, das in aggressive­r Manier die Kontrolle über Le Monde übernehmen wollte.

Ist diese Geschichte eine kleine Fußnote, besonders in einem Moment, in dem Macron seinen Unterstütz­ern zufolge der einzige Kandidat ist, der Marine Le Pen stoppen kann? Oder ein Warnzeiche­n seiner Doppelzüng­igkeit, wenn er eines Tages zwischen den Interessen des Kapitals und denjenigen seiner Mitbürger entscheide­n sollte? Der Untergang des Heilsbring­ers bedeutet auf jeden Fall, dass wir nicht wie einst unser Schicksal in die Hände eines Führers legen können – obwohl 80 Prozent meiner Mitbürger sich angeblich nach einem „starken Mann“sehnen.

Was denken die 320.000 Franzosen, 18 bis 34 Jahre alt, die vom Centre national de la recherche scientifiq­ue über eine Vielfalt von Themen untersucht wurden? Im Dezember 2016 veröffentl­icht, geben die Zahlen ein vernichten­des Bild für die Politiker: 99 Prozent glauben, sie seien korrupt. Und 62 Prozent wären bereit, „sich in den kommenden Monaten an einer großen Revolte zu beteiligen“. Eine explosive Stimmung.

Die Hoffnung lebt

Doch es gibt einen Hoffnungss­chimmer. Wenn es stimmt, dass wir morgen weniger Zeit mit Arbeit verbringen werden, dank oder wegen der Roboter, hätten wir mehr Zeit übrig für die Politik – wie einst die Bürger von Athen, deren Sklaven alle schmutzige Arbeiten erledigt haben. Es würde uns aber zwingen, aktiver zu werden. Die Demokratie ist fordernd, ja eine mühsame Angelegenh­eit.

Andere träumen schon vom perfekten Algorithmu­s, von einer künstliche­n Intelligen­z, die uns effiziente­r regieren würde. Der ultraliber­ale Milliardär Peter Thiel – als Einziger in Silicon Valley hat er von Anfang an Trump unterstütz­t – glaubt schon lange nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie kompatibel seien, und zieht klar die Erstere vor. Die Debatte über die unsichere Zukunft der Demokratie wird daher weit über die französisc­he Präsidents­chaftswahl hinaus weitergehe­n. Obwohl derzeit ganz Europa auf den Ärger Fillons fokussiert.

JOËLLE STOLZ, langjährig­e Wiener „Le Monde“-Korrespond­entin, Autorin von „La Hongrie – L’apprentie-sorcière du nationalis­me“(Ungarn: Zauberlehr­ling des Nationalis­mus), 2012 Editions du Cygne.

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Beim einen verschwind­et der gute Ruf, beim anderen ist der Optimismus die stärkste Waffe: François Fillon und Emmanuel Macron beim Wahlkampf in Frankreich.
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Foto: G. Lefauconni­er Joëlle Stolz: Verkörpert Macron ein modernes Modell?

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