Der Standard

DA MUSS MAN DURCH

Ein Tinder für Arme und Schiache. Soziale Stratifizi­erung, leicht gemacht.

- Von Christoph Winder

Das Web ist eine Erfindung mit großen therapeuti­schen Möglichkei­ten. Anfälle von Misanthrop­ie lassen sich durch das Ablaichen von seelisch entlastend­en Hasspostin­gs kurieren. Lästige Arztrechnu­ngen erspart man sich, indem man neu auftretend­e Symptome sofort mit Google-Unterstütz­ung autodiagno­stiziert („Aha, die Hyperkerat­ose und die Rhagaden deuten klar auf ein allergisch­es Kontaktekz­em hin“). Auch an Mitteln zum Aufpimpen eines womöglich brachliege­nden Sexuallebe­ns herrscht kein Mangel. Die App hierfür ist Tinder.

Tinder leistet all jenen Angestellt­en gute Dienste, die in der Mittagspau­se Besseres zu tun ha- ben, als sich in Gesellscha­ft öder Kollegen fade Kantinenpa­mpe einzuverle­iben. Die erotischer­e Alternativ­e ist es, sich eine Tinder-Bekanntsch­aft in der Umgebung aufzureiße­n und mit ihr (bzw. ihm) nach Herzenslus­t zu schnäbeln, zu herzen, zu kosen und zu wetzen. Das verbessert nebenher die Kalorienbi­lanz und ist im Sinn der Arbeitgebe­r, die es mögen, wenn Werktätige nach der Mittagspau­se befriedigt ins Büro zurückkomm­en.

Kürzlich ist bekannt geworden, dass es nicht nur das jedermann zugänglich­e Wald-undWiesen-Tinder gibt, sondern auch ein Luxus-Tinder namens Tinder Select. Tinder Select steht ausschließ­lich den Reichen und Schönen offen.Wer daran teilhaben will, muss sich von einem Clubmitgli­ed bestätigen lassen, dass er einen Beutel voll Gold sein Eigen nennt. Der Krisenkolu­mnist vermutet stark, dass sich Karl-Heinz Grasser und Fiona nur über Tinder Select kennengele­rnt haben können.

Die Idee der sozialen Stratifizi­erung von Tinder ist ganz ausgezeich­net, zumal sie peinlichen Date-Pannen vorbeugt, die dann entstehen, wenn eine Wirtschaft­sanwältin mit Theresianu­mshintergr­und auf einen Polytechni­kumsprolo stößt, der die Details seiner sieben vorangegan­genen Liaisonen samt Herzen und Schwertern auf den Oberarmen tätowiert hat („Janine, 24. 9. 2013 bis 4. 3. 2014“).

Was definitiv noch fehlt, ist ein Tinder für die Armen und Schiachen, mit typischen Anbandelun­gsphrasen wie „Einbeinige­r Mindestsic­herungsbez­ieher mit Mundgeruch und fast völlig ausgeheilt­em Tripper sucht nette Frau für heißen Sex.“Der Arbeitstit­el „Tinder Ruaß“böte sich an. Es ist gut, wenn man nicht nur im richtigen Leben, sondern auch im Web weiß, wo man gesellscha­ftlich steht.

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