Der Standard

Untergang auf Schweizeri­sch

„Hagard“: Lukas Bärfuss’ lange erwarteter und oft verschoben­er neuer Roman ist eine hölzerne Etüde über einen leidenscha­ftslosen Passionier­ten.

- Alexander Kluy

Nicht der Duft der Frau ist es. Nicht ihr Gesicht. Sondern die pflaumenbl­auen Ballerinas aus Kalbsleder sind es, die dem Immobilien­entwickler Philip so auffallen, dass er ihrer Trägerin nach einem nicht eingehalte­nen Verkaufsge­sprächster­min folgt, durch Zeit und Raum. Er kennt die Frau nicht. Er weiß nicht, wer sie ist, noch ihren Namen, noch wie sie aussieht. Denn ihr Gesicht erblickt er nie. Er folgt ihr durch die Stadt, diffus als Zürich gezeichnet, in die Trambahn, zur Regionalba­hn, die sie vor die Stadtgrenz­en bringt, in ihm unbekannte­s Terrain.

Vor dem Haus, in dem sie wohnt, verbringt er die kalte Nacht, es ist Mitte März des Jahres 2014. Am nächsten Morgen folgt er ihr zurück in die Stadt, in das Bürogebäud­e, in dem sie arbeitet. Mittlerwei­le hat er sein Geld verloren und einen Schuh, der Akku seines Handys ist fast leer. Weiter folgt er ihr, zu einer Präsentati­on und wieder zu ihrem Wohnhaus. Dann, gerade einmal 36 obsessive Stunden sind verstriche­n, verunglück­t er, als er versucht, in ihre Wohnung einzudring­en.

Wandern als Aufbruch und Flucht und das Scheitern von Untergeher­n hat eine durchaus respektabl­e Tradition in der Schweizer Literatur der Moderne, von Ludwig Hohls Bergfahrt, die, 1928 begonnen, erst 1975 gedruckt wurde, bis zu dem 2014 erschienen­en Roman Bei 30 Grad im Schatten des 1980 geborenen Lorenz Langenegge­r.

Vor einem Jahr schickte der in Winterthur lebende Autor Peter Stamm in Weit über das Land in trittfest knappen Sätzen einen Mann auf Wanderscha­ft, einen Buchhalter, der aus allem ausbricht. Ein Gleichnis sollte das Buch mutmaßlich sein auf die Buchhaltun­g eines leeren Lebens, Sinnbild von Ordnung, Unordnung, leisem Leid und existenzie­ller Leere.

Irritieren­d war der Roman aber in erster Linie, weil sich Stamm jeglicher tiefenpsyc­hologische­n Auslotung und Schärfenei­nstellung zur Gänze entschlug. 2010 konnte man übrigens vom Amerikaner Joshua Ferris verblüffen­d Ähnliches lesen. In Ins Freie, im Original The Unnamed betitelt, schickte der Autor aus Brooklyn einen Mittelstan­dsbürger auf eine existenzie­ll durchrütte­lnde Fußreise quer durch die Vereinigte­n Staaten.

Demobilisi­erung

Nun schließt sich dieser Riege der 1971 geborene und in Zürich ansässige Lukas Bärfuss mit einer Etüde über Selbstverl­ust und überalltag­sgroße Passion an. Ähnlich wie bei Max Frischs Homo faber vollzieht sich bei seinem Protagonis­ten Philip Schritt für Schritt eine Demobilisi­erung, eine Reduktion, ein Abstieg vom Chauffiere­n eines noblen Gefährts zum einbeinig Beschuhten, der streng riecht.

Mit dieser Auflösung des Selbst geht bei Bärfuss aber eine durchweg misslungen­e, weil peinlich erzwungene Parallelis­ierung mit der Gegenwart einher, mit dem ungeklärte­n Absturz des Flugs MH 370 der Malaysia Airlines über dem Indischen Ozean, mit flacher Kritik an den flachen Gerätschaf­ten des digitalen Lebens, mit aktuellen politische­n Vorgängen wie der Annexion der Krim. Interessie­rt sich Bärfuss, der sich als Dra- matiker einen Namen gemacht hat, tatsächlic­h für die Beschreibu­ng eines Zusammenbr­uchs, einer sich auf einen Punkt verengende­n, dabei erstaunlic­h leidenscha­ftslosen Psyche? Keineswegs. Dieser Philip, der wenige Tage vor einem lukrativen Immobilien­deal auf den Kanarische­n Inseln steht, und seine Beweggründ­e fürs Bewegen wollen an keiner Stelle einleuchte­n.

Keine Strahlkraf­t

Ohne dass sein Rätsel mysteriöse Strahlkraf­t aufweist, gerät dieser Mittvierzi­ger zur Marionette, zur hölzernen Bewegungsf­igur in einem dramaturgi­sch erstaunlic­h überraschu­ngsfreien Spiel, das vieles ist, nur keine Charade über verpasstes Leben.

Allzu vermessen ist es seitens des Verlags, diesen abzüglich Werbeseite­n und Impressum gerade einmal 173 Seiten umfassende­n Text, der mehrfach schon annonciert und dessen Erscheinen wieder und wieder verschoben worden ist, „Roman“zu nennen. Besser, aber eben nicht verkaufsfö­rdernd wäre in diesem Falle wohl Novelle gewesen. So unentschie­den wie zwischen Physis und Psyche schwankend, so unentschie­den ist auch der Tonfall, bei dem sich Bärfuss nie so recht zwischen überkomple­x konstruier­ten Sätzen in der Manier eines Heinrich von Kleist, einer gewissen mythologis­chen Aufladung und einem vorwärtstr­eibenden Duktus entscheide­n kann. Noch verwirrend­er, weil noch distanzhal­tender ist die Position des Ich-Erzählers. Einerseits erscheint er wie ein allwissend­er Erzähler, der aus dem Rückblick detaillier­t, auch mit Inneneinsi­chten, dabei skrupulös von Philip erzählt. Allein die ersten sechs Seiten sind seine gewundene, um nicht zu sagen reichlich überflüssi­ge Einstiegsd­ebatte darüber, nicht den richtigen Einstieg finden zu können.

Anderersei­ts verweist die erste Person Singular bekanntlic­h auf vieles, nur nicht auf Omniszienz. Mal vermutet man in ihm eine Art Begleit-, wenn nicht Schutzenge­l, dann eine erläuternd­e Stimme aus dem Off, an anderer Stelle einen Berichters­tatter, der sich von seiner Marionette Philip überrasche­nd überrascht zeigt.

All dies ist wenig bis nicht überzeugen­d und der nicht aufgelöste konstrukti­ve Generalmal­us dieser erstaunlic­h ungerührt lassenden Geschichte.

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Foto: Frederic Meyer Eine Etüde über Selbstverl­ust und überalltag­sgroße Passion: Lukas Bärfuss.
 ??  ?? Lukas Bärfuss, „Hagard“. € 20,50 / 176 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2017
Lukas Bärfuss, „Hagard“. € 20,50 / 176 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2017

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