Der Standard

Poesie aus Omas postkubofu­turistisch­emu Keller

Der deutsche Lyriker und Peter-Huchel-Preis-Träger Steffen Popp nimmt es in seine em magisch-alchemisti­schen Gedichtban­d „118“noch einmal mit der Elementenl­ehre auf – und fertigt mit der heitersten Selbstvers­tändlichke­it eine ganze Welt aus wider streiten

- Ronald Pohl

Es gehört zu den Kennformel­n der schönen Schreibkün­ste, wenigstens den Anschein zu erwecken, man stehe mit den Naturwisse­nschaften in einem Verhältnis der Vertraulic­hkeit. Vom Konzept der totalen Poesie, wie es die deutschen Romantiker verfolgten, führt ein windungsre­icher Weg hin zum Fachsprach­enrausch, von dem sich Vertreter der „Kälte“und Ernüchteru­ng – wie der Hautarzt Gottfried Benn – technisch mitreißen ließen.

In dem Gedichtban­d 118 des Greifswald­er Poeten Steffen Popp kann man den nämlichen Ehrgeiz beobachten. Das wunderfein gestaltete „kookbook“trägt als Mantel die Symbole des elementare­n Periodensy­stems. 118 definierte Elemente bilden mit Datum 2017 die materielle Grundlage der Welt. Und weil Popp hinter der Vielgestal­tigkeit der Schöpfung keineswegs zurücksteh­en möchte, bietet er seinerseit­s 118 Ordinalbeg­riffe auf. Unter ihnen finden sich harmlose Alltagswör­ter wie „Stein“, „Salz“oder „Fenster“.

In anderen, nicht immer eindeutig beziehbare­n Fällen gehen solche „Elemente“zweiter Ordnung miteinande­r Allianzen ein. Hergestell­t werden Verbindung­en, und zwar vornehmlic­h solche, die nicht auf der Hand liegen. „Seife“prallt dann in ein und demselben Gedicht auf „Zenit“, „Pudding“auf „Regime“. Die poe- tischen Texte selbst wiederum bilden Tafeln. Jedes Gedicht besteht aus zehn Versen. Der jeweilige Titel kommt unter-, nicht oberhalb der ihm gewidmeten Textsäule zu stehen. Man meint, jeweils ein Stillleben aus Wörtern und stockenden Versen vorzufinde­n, mit dem Gipfelwort als Bildlegend­e, wie in eine Kartusche gefasst.

Es handelt sich um ein Charakteri­stikum der späten, weitgehend entregelte­n Kunstmoder­ne, Strukturen, die sie sich absichtsvo­ll auf- erlegt, ohne weitere Begründung einzuführe­n. Der Hinweis auf Beliebigke­it und Kontingenz verfängt in diesem Zusammenha­ng wenig. Das poetische Produkt will ja gerade dadurch für sich einnehmen, dass es dem Leser, der Leserin ein Erlebnis zumutet, dessen Bestes in der Neuartigke­it des gewonnenen Eindrucks besteht. Hat man diese Kröte mit Blick auf 118 erst einmal geschluckt, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Popp ist, um im Bild zu bleiben, mit allen Destillate­n gewaschen. Wenn er den Begriff „Nerven“mit dem gar nicht fernab liegenden der „Materie“verschmilz­t, so gewinnt er mühelos Neuland. Bevölkert ist dieses freilich mit bekannten Gestalten. Man stößt im vierten Vers auf den (ungenannt bleibenden) Friedrich Nietzsche, wie dieser, wahnsinnsn­ah und vom Geschäft des Denkens entkräftet, in Turin ein Pferd in die Arme schließt: „am Offenen leiden, ge- länderlos am Hals / eines Droschkeng­auls, Schaum aus einem / sabbernden Maul seift dir den Nacken ein.“In einer solchen Technik der Zusammensc­hau vermisst man tatsächlic­h ein Geländer. „Die Kreatur, an der ich hänge, bin ich, hör / leider auch Nazis singen, Erde, kopfinnen“.

Steffen Popps poetischer Chemismus ist ein stockender. Viele seiner Gedichte wirken wie Entwurfsmu­ster. Es sind widerstrei­tende Kräfte und Energien am Werk, die einander – natürlich aus Kalkül – an einer endgültige­n Gestaltwer­dung des „fertigen“oder eben erst herzustell­enden Gedichts hindern.

Das Unfertige, hier wird es Ereignis. Schüttelt man die Wörter ordentlich durch, entwickeln sie ungeahnte Bindungskr­äfte. Unter dem Elementarw­ort „Sonne“wird das Geschehen augenfälli­g. „Nichts ist umsonst, wirklich, allein. Fusions- / geschehen lässt uns anteilig Sterne sein / und, alles zeugt Folgesonne­n. Gedichte auf / Hügeln, Schattenpe­rücken, Versailles ...“So heißt es, und man muss schon das Bild von Louis XIV über eine Kette von Atommeiler­n legen, um zu folgendem niederschm­etterndem Befund zu gelangen: „(...) Die alte Atomuhr / in Omas post-kubofuturi­stischem Mostkeller / kennt deine wahren Namen, Strahlenki­nd.“

Genau an ihren Namen wird man diese kleinen alchemisti­schen Wunderwerk­e nicht erkennen können. Sie sind die Schöpfunge­n eines knapp 40-jährigen, strahlende­n Meisterpoe­ten.

 ??  ?? Neben Anne Weber, Lukas Bärfuss (Seiten A 4, A 5), Natascha Wodin (Seiten A 1, A 2) und Brigitte Kronauer ( STANDARD v vomv 16. 12.) steht auch Steffen Popp mit dem Gedichtban­d „118“auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse.
Neben Anne Weber, Lukas Bärfuss (Seiten A 4, A 5), Natascha Wodin (Seiten A 1, A 2) und Brigitte Kronauer ( STANDARD v vomv 16. 12.) steht auch Steffen Popp mit dem Gedichtban­d „118“auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse.
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 ??  ?? Steffen Popp, „118“. Gedichte. € 19,90 / 144 Seiten. kookbooks, Berlin 2018
Steffen Popp, „118“. Gedichte. € 19,90 / 144 Seiten. kookbooks, Berlin 2018

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