„Ich glaube nicht, dass alle Politiker Lügner sind“
Interviews seien keine Boxkämpfe, sagt Stephen Sackur. Der britische Journalist moderiert auf BBC das legendäre Interviewformat „Hardtalk“. Hugo Chávez war die positive Überraschung, Al Gore die negative.
STANDARD: Lassen Sie mich mit einem Klischee beginnen – und zwar dem vom höflichen Engländer. Da passt Ihr hartnäckiger Interviewstil nicht ganz rein, oder? Sackur: Es ist möglich, gleichzeitig herausfordernd zu sein und Höflichkeit zu bewahren. Mir ist wichtig, meinen Gästen gegenüber nicht höhnisch oder überheblich zu wirken, aber ich will keine Antworten akzeptieren, die der Frage ausweichen. Deshalb schätze ich, dass manche Leute das Gefühl haben, ich wäre unhöflich. Ich sehe das nicht so.
STANDARD: Bekommen Sie Zuschauerbeschwerden? Sackur: Ein paar. Die große Mehrheit der Rückmeldungen ist sehr positiv. Die Leute scheinen zu schätzen, dass die BBC noch an diese Form von Journalismus glaubt. Aber ab und zu bekomme ich zu hören: „Könnten Sie bitte aufhören, so oft zu unterbrechen?“, „Warum sind Sie so unhöflich?“, „Warum glauben Sie ihren Gästen nicht?“– solche Kommentare bekomme ich, aber es sind nicht viele.
viele
STANDARD: Sie befinden sich also in einem Dilemma, wenn Politiker nur ihre Phrasen herunterbeten und Sie sie unterbrechen müssen. Sackur: Sie haben Recht, Politiker und Personen in der Öffentlichkeit sind heute gut trainiert darin, nicht auf Fragen zu antworten, wenn sie das nicht wollen. Ausdauer ist sehr wichtig. Ich lasse mich nicht abschütteln. Ab und zu beinhaltet das Unterbrechungen, wenn ich glaube, dass mein Gast nur spricht, um Zeit zu beanspruchen und eine direkte Antwort zu vermeiden. Es geht um Tonalität und Einstellung, und ich versuche, dabei nicht aggressiv oder persönlich rüberzukommen. Ich sehe das Interview nicht als Boxkampf, bei dem eine Seite gewinnt und eine verliert.
STANDARD: Sie selbst haben das Setting der Sendung als „heftig“bezeichnet – warum kommen Gäste überhaupt zu „Hardtalk“? Sackur: Gute Frage, ich stelle sie mir selbst oft. Afrikanische Diktatoren, Staatschefs, die Menschenrechte missachten oder mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert sind – warum sollten die zu Hardtalk kommen? Dennoch kommen viele. Ich glaube, zum Teil liegt die Antwort in menschlicher Emotion: Eitelkeit, Ego. Außerdem mögen sie eine Plattform, auf der sie 25 Minuten bekommen, um ihre Argumente darzustellen. Für einen Regierungs- oder Firmenchef, für eine bekannte Person aus Religion oder Kultur ist die Idee einer Bühne, um zu bis zu 70 Millionen Zusehern zu sprechen, ein ziemlich attraktives Angebot.
STANDARD: Es wird heute viel vom „postfaktischen Zeitalter“geredet – mit Donald Trump als prominentestem Beispiel. Kümmern sich Politiker heute tatsächlich weniger um die Wahrheit?
So allgemein würde ich das nicht sagen. Die Veränderungen im Informationsfluss durch das Internet ist ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite ist es einfacher denn je, falsche Nachrichten zu verbreiten. Gleichzeitig ist es einfacher denn je, Fakten zu überprüfen. Wenn wir verantwortungsvoll damit umgehen, erlaubt uns das Internet, die Wahrheit zu überprüfen. Ich glaube nicht, dass alle Politiker Lügner sind und es mein Job ist, ihre Lügen zu entlarven. Das fände ich zynisch. Vielmehr bin ich skeptisch: Ich weiß, wie Macht funktioniert, welche Kompromisse eingegangen werden müssen.
STANDARD: Welches Interview war für Sie besonders beeindruckend? Sackur: Mein denkwürdigstes Interview fand in Venezuela mit dem damaligen Machthaber Hugo Chávez statt. Wir bekamen das Interview nur, weil ich ein freundschaftliches Verhältnis zum Filmemacher Oliver Stone entwickelt hatte, der einen Film über Chávez gedreht hatte. Er war unglaublich
charismatisch und sehr streitlustig – er nannte mich dumm und schlecht informiert. Als ich nach seinen Gefängnissen und Menschenrechtsverletzungen fragte, regte er sich richtig auf und drohte mir mit dem Finger im Gesicht.
STANDARD: Ihr unangenehmstes Interview? Sackur: Davon hatte ich viele, eines davon mit dem ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore. Ich sprach mit ihm, als er den Nobelpreis für seinen Film An Inconvenient Truth gewonnen hatte. Er war so grantig! Als ich anmerkte, dass einige Dinge nicht ganz so eindeutig seien, wurde er sehr wütend. Er warf mir vor, ein Klimawandelleugner zu sein. Wenn es so weit ist, ist es sehr schwierig, ein Interview zu führen.
STEPHEN SACKUR (53) ist seit 1986 bei der britischen, öffentlich-rechtlichen BBC. Seit 2005 moderiert er „Hardtalk“. Das Interviewformat feiert 20-jähriges Jubiläum und läuft auf BBC World News wochentags um 16.30 und 21.30 Uhr. pMehr auf derStandard.at/Etat