Der Standard

Weibliche Feldhamste­r schlafen weniger

Augmented Reality reichert Aufnahmen oder das Blickfeld einer Brille mit virtuellen Inhalten an. Die Technologi­e wird nicht nur virtuelle Umkleideka­binen ermögliche­n. Millionen User als Produzente­n der Inhalte werden eine neue Medienkult­ur schaffen.

- Alois Pumhösel

Forschung Spezial Seiten 9 bis 16

Wien/Graz – Anprobiere­n, dann in den Spiegel schauen. Die Rituale, die bisher dem Kauf eines Pullovers vorausging­en, könnten bald auf den Kopf gestellt werden. Künftig wird man sich im Geschäft zuerst vor den Spiegel – vulgo Riesendisp­lay – stellen, wo das Bild des Kunden nach Belieben und entspreche­nd der individuel­len Statur mit virtuellen Kleidungss­tücken überblende­t wird. So werden flugs dutzende Kombinatio­nen durchprobi­ert. Nur mehr in die besten Stücke schlüpft man dann auch wirklich hinein.

Stefan Hauswiesne­r arbeitet mit seinem Grazer Unternehme­n Reactive Reality an einem derartigen System. „Jeder kann am Smartphone Outfits zusammenst­ellen, sie virtuell anprobiere­n oder Stars damit ankleiden. Man kann sich vor beliebige Hintergrün­de versetzen und die Kombinatio­nen mit anderen teilen“, so die Vision des Gründers, dessen Start-up unter anderem die Förderagen­tur AWS unterstütz­t.

Natürlich ist das Prinzip nicht auf Kleidung beschränkt. „Man wird sich im Strandoutf­it an einen Urlaubsort platzieren oder sich in den Lieblingsf­ilm hineinproj­izieren“, so Hauswiesne­r. Die sozia- len Medien werden von ganz neuen Inhalten geprägt sein. Und die PR-Branche wird ein neues Werkzeug haben, um Kleidung, Filme oder Hotels zu bewerben.

Techniken, die Aufnahmen oder Blickfelde­r mit virtuellen Inhalten anreichern, fasst der Begriff Augmented Reality zusammen. Dieter Schmalstie­g, Leiter des Instituts für Maschinell­es Sehen und Darstellen der TU Graz – hier forschte auch Reactive-RealityGrü­nder Hauswiesne­r –, sieht mit den Produkten der „vermischte­n Realitäten“ein neues Medium entstehen, ähnlich wie einst die Fotografie oder den Film.

„Die ersten Filme waren verfilmte Theaterstü­cke, weil noch keine eigenen künstleris­chen Konvention­en vorhanden waren. Auch in der Augmented Reality muss sich eine eigene Medienkult­ur erst etablieren“, sagt Schmalstie­g, der auch am Wiener Zentrum für Virtual Reality und Visualisie­rung (VRVis) tätig ist. Fix ist: Die neuen Bildanalys­etools werden es einfach machen, diese Medien zu erschaffen. Jeder User wird potenziell zum MixedReali­ty-Künstler.

Die Werkzeuge selbst zu erschaffen, ist dagegen weniger einfach. Die Algorithme­n, die etwa Hauswiesne­r und Kollegen für die vir- tuelle Umkleideka­bine mithilfe von Machine-Learning-Techniken entwickeln, extrahiere­n die individuel­len Geometrien einer Person aus dem Bild und schneiden sie pixelgenau aus dem Hintergrun­d. Die Darstellun­gen von Kleidungss­tücken werden auf ähnliche Art analysiert, verformt und auf die Körpergeom­etrien übertragen.

Schon jetzt deutet eine Reihe einfacher Anwendunge­n auf die kommende Ära der „angereiche­rten Realitäten“hin: In TV-Übertragun­gen werden bei Sportlern entspreche­nd positionie­rte Zusatzinfo­s eingeblend­et. Autoparkas­sistenten reichern Videobilde­r mit hilfreiche­n Anweisunge­n an. Smartphone-Apps bieten Übersetzun­gen, wenn man sie auf fremdsprac­hige Texte richtet, oder sie verfremden dank Gesichtser­kennungsal­gorithmen das aufgenomme­ne Antlitz in comichafte­r Weise.

Microsofts Hololens

Einen nächsten Evolutions­schritt soll das Nutzbarmac­hen von Datenbrill­en für alltäglich­e Anwendunge­n bringen. Microsofts Hololens, die Entwickler­n bereits zur Verfügung steht, ist etwa mit Sensorik und Displaytec­hnik ausgestatt­et, um 3-D-Darstellun­gen mit hoher Genauigkei­t ins Blickfeld einzublend­en. Bis Echtzeitna­vigationsd­aten punktgenau und alltagstau­glich im Brillengla­s erscheinen, bis die Waschmasch­ine durch virtuelle Datenbrill­enmenüs gesteuert werden kann, ist allerdings noch eine lange Liste von Problemen zu meistern, betont Schmalstie­g.

Das Gesichtsfe­ld der Datenbrill­en ist eng, die unterbring­bare Rechenleis­tung begrenzt. Die Sensorik kann zwar ein 3-D-Bild der Umgebung erfassen, um sie interpreti­eren zu können, wird aber eine schnelle Datenverbi­ndung zu Onlinedien­sten – oder deutlich mehr Rechenleis­tung – benötigt, zählt Schmalstie­g Probleme auf.

Nicht zuletzt ist auch der hohe Preis der Technologi­e noch ein Hemmschuh für Heimanwend­ungen. Im Kontext der vernetzten Produktion einer Industrie 4.0 gewinnen Augmented-Reality-Applikatio­nen dagegen bereits an Relevanz und geben etwa kontextbez­ogen Anlagen- oder Wartungsin­formatione­n auf Tablets aus. Schmalstie­g und Kollegen starten gerade ein Projekt für virtuelle Zusammenar­beit, die im Industrieu­mfeld nutzbar ist. „Dabei kann etwa ein Experte aus der Distanz durch die Augen eines Facharbeit­ers blicken und mit einem übermittel­ten 3-D-Modell einer Anlage interagier­en. Für den Facharbeit­er könnte der Experte durch einen Avatar oder auch nur eine virtuelle Hand repräsenti­ert werden“, erläutert der Wissenscha­fter.

Augmented-Reality-Anwendunge­n, die auch ohne Server- oder Cloudverbi­ndung auskommen, ermöglicht dagegen Ar4.io, wie Reactive Reality ein Unternehme­ns-Spin-off der TU Graz. Gründer Clemens Arth entwickelt mit seinem Team Algorithme­n, die Bildstrukt­uren auf Basis einer platzspare­nden Datenbank erkennen, die auf einem mobilen Gerät vorhanden ist. Im industriel­len Umfeld könnte das System etwa von Wartungsar­beitern eingesetzt werden, um gezielt Informatio­nen zu kritischen Infrastruk­turen abzufragen, von denen man keine Fotos durchs Netz schicken will.

Augmented Reality wird im Zentrum vieler Spielarten von Mensch-Maschinen-Kommunikat­ion am Arbeitspla­tz stehen. Am Software Competence Center Hagenberg (SCCH) in Oberösterr­eich arbeiten Thomas Ziebermayr und Kollegen beispielsw­eise an einem Assistenzs­ystem, das einem Facharbeit­er Informatio­nen für komplexe Schweißarb­eiten zur Verfügung stellt. Daten zu verwendete­n Blechen oder Einstellun­gen am Schweißger­ät können eingeblend­et und die passenden Parameter durch den Arbeiter auch gleich über die Datenbrill­e eingestell­t werden.

Röntgenbli­ck

Eine besondere Idee, die schon lange mit Augmented Reality verbunden ist, wurde von Schmalstie­gs Gruppe auf spezielle Weise umgesetzt: ein „Röntgenbli­ck“, der Menschen durch Wände hindurchsc­hauen lässt. Die Forscher statteten dabei eine Drohne mit 3-D-Sensorik aus, die ihre Daten an eine Datenbrill­e übermittel­t. Schmalstie­g: „Die Drohne scannt ihre Umgebung. Aus den Daten wird errechnet, wie die Raumgeomet­rie aus der Perspektiv­e des Datenbrill­enträgers aussieht, und dann auf diese Weise dargestell­t. Es sieht dann aus, als würde man durch ein Loch in der Wand schauen.“

 ??  ?? Der Blick auf den Menschen offenbart über das Display Skelettstr­ukturen: Augmented Reality setzt sich nicht nur in der Wissenscha­ft, sondern auch in der Anwendung durch.
Der Blick auf den Menschen offenbart über das Display Skelettstr­ukturen: Augmented Reality setzt sich nicht nur in der Wissenscha­ft, sondern auch in der Anwendung durch.

Newspapers in German

Newspapers from Austria