Der Standard

Von der Radikalisi­erung bedrohte Erben der Sowjetunio­n

Bereits mehrere Attentäter aus Zentralasi­en – Gefahr des islamistis­chen Extremismu­s lange verkannt

- Manuel Escher

Bestätigt wurde es zwar erst am Dienstag, doch alle Spuren, schrieben russische Medien, deuteten schon Stunden nach dem Anschlag darauf hin, dass der Täter von St. Petersburg aus Kirgisista­n stammte. Auch die Suche nach möglichen Hintermänn­ern bezog sich auf Gruppen aus Zentralasi­en. Dass die russischen Behörden in diese Richtung ermitteln, galt nicht mehr als große Überraschu­ng. Denn die zentralasi­atischen Staaten sind in den vergangene­n Jahren zu Sorgenkind­ern der Antiterror­kämpfer geworden – auch wenn ihre Bewohner mehrheitli­ch als Anhänger eines moderaten Islam gelten.

Rund 4000 Kämpfer der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) in Syrien und im Irak sollen nach Schätzunge­n des Thinktanks Internatio­nal Crisis Group (ICG) mit Stand Ende 2015 aus der Region stammen. Auch in Attentate im Ausland waren Menschen aus den zentralasi­atischen Staaten schon verwickelt: Die Angreifer beim blutigen Anschlag auf den Istanbuler Atatürk-Flughafen vom Juni 2016 mit 45 Toten stammten aus Usbekistan und Kirgisista­n. Auch jener Attentäter, der in der Silvestern­acht zum Jahreswech­sel 2017 mindestens 39 Menschen in einem Istanbuler Nachtklub erschoss, kam ur- sprünglich aus Usbekistan, einer seiner Komplizen aus Kirgisista­n.

Vor allem das fruchtbare und dicht besiedelte Ferghanata­l, das sich Usbekistan, Kirgisista­n und Tadschikis­tan teilen, gilt als Krisenherd – das betrifft soziale Unruhen, aber auch Radikalisi­erung.

Staatliche Unterdrück­ung

Gründe für die Anfälligke­it gibt es viele. Fast immer haben sie aber mit der komplizier­ten Geschichte der Region zu tun, deren Teilung in einzelne Staaten relativ neu ist: Im Perserreic­h gehörte das Tal der Provinz Transoxani­en an, später wurde es zum eigenständ­igen Khanat Kokand. Auch unter russischer Herrschaft blieb es zunächst ungeteilt. Erst die Sowjetunio­n ließ die Grenzen neu ziehen – und formte damit die heutigen ethnischen Gruppen, die sich zuvor nur vage unterschie­den hatten. Außerdem ließ Moskau islamische Traditione­n unterdrück­en.

Beides hat Folgen bis heute: Vor allem im Ferghanata­l ist die Bevölkerun­g noch immer gemischt, alle drei Staaten haben große Minderheit­en aus den jeweils zwei anderen. Das heizt soziale Spannungen an. Außerdem gediehen schon in der späten Sowjetunio­n Untergrund­moscheen. Sie entzogen sich staatliche­r Kontrolle und wandten sich nach der Unabhängig­keit 1991 konservati­ven Strö- mungen zu. Oft flossen Spendengel­der aus dem Nahen Osten.

Die Islamisten trafen dabei auf eine Bevölkerun­g, die nach dem Ende der Sowjetunio­n auf der Suche nach neuer Identität war – und vielfach kaum Erinnerung­en an jene früherer Generation­en hatte. Seither ist die Bevölkerun­g deutlich konservati­ver geworden. Gewaltbere­itschaft ist noch ein Minderheit­enprogramm – aber eines, das Zulauf hat. Schon 2001 gingen erste Kämpfer nach Afghanista­n, später zum IS. Dabei ist auch der Sold ein Faktor. Er ist viel höher als ein normales Einkommen.

Besonders wegen der wirtschaft­lichen Stagnation gilt die Sorge schon länger den Rückkehrer­n vom IS: Die Regierunge­n flüchten in teils hilflos wirkende Maßnahmen. Das autokratis­che Tadschikis­tan befahl vor einem Jahr 1700 Frauen, ihre Gesichtssc­hleier abzunehmen, und rund 13.000 Männern, sich ihre langen Bärte abrasieren zu lassen. Das vergleichs­weise demokratis­che Kirgisista­n versuchte es lange mit Duldung und hat erst seit den Anschlägen von 2015 die islamistis­chen Gruppen stärker im Blick.

Auch Russland ist auf die Bedrohung aufmerksam geworden. Moskau strebt mit dem Argument des Antiterror­kampfes eine engere Militärkoo­peration mit mehreren Staaten in der Region an – was westliche Staaten bisher als Vorwand für geopolitis­che Ausdehnung kritisiert­en. 2016 hat Russland eine Basis in Tadschikis­tan ausgebaut und Soldaten an die Grenze zu Afghanista­n geschickt.

Allerdings sollen sich viele auch in Russland radikalisi­ert haben: Dort boten ihnen Männer aus dem Kaukasus einen Ausweg aus der Ablehnung durch Teile der russischen Bevölkerun­g an. Sie entpuppten sich später als Anwerber radikaler Gruppen. Auch der Angreifer vom Dienstag soll in Russland gelebt und einen russischen Pass gehabt haben.

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