Ankara tut sich mit Putschvorwurf schwer
Türkischer Oppositionschef stichelt mit den offenen Fragen zum Coup vom 15. Juli
ANALYSE: Ankara/Athen – Die Reaktionen waren wütend, und vielleicht hatte Kemal Kiliçdaroglu, der türkische Oppositionsführer, damit schon erreicht, was er wollte: weiter Unruhe auf ein Schiff bringen, das dem 16. April entgegenschlingert, dem Tag, an dem die Türken per Volksentscheid über den Systemwechsel im Land entscheiden. Die Kampagne läuft nach wie vor nicht rund für Präsident und Regierung. Kiliçdaroglu aber stellte mit einer einzigen Behauptung die ganze Konstruktion von Ausnahmezustand, Massenverhaftungen und angeblich zwingend notwendiger Einführung einer Präsidialverfassung infrage, welche die Türkei seit nun bald neun Monaten in Atem hält.
Der Putsch vom 15. Juli vergangenen Jahres könnte in Wahrheit politisch kontrolliert abgelaufen sein, also mit Wissen von Staatschef Tayyip Erdogan, Regierung und Teilen der Regierungspartei AKP, so erklärte Kiliçdaroglu zu Wochenbeginn bei einem Pressefrühstück mit türkischen TV-Journalisten. Er habe ein Dossier dazu vorbereitet, das in einigen Tagen veröffentlicht werde, sagte der Chef der sozialdemokratischen Opposition. Kiliçdaroglu ist bekannt für solche angekündigten Enthüllungen, die am Ende bisweilen auch kleiner ausfallen oder verschoben werden. Mit der Behauptung von einem „kontrollierten Putsch“traf er jedoch einen Nerv der Führung in Ankara.
Eine Beleidigung der „Märtyrer“des 15. Juli – der mehr als 250 Opfer – sei Kiliçdaroglus Vorwurf, polterte Premier Binali Yildirim. Erdogan nannte Kiliçdaroglu einen Lügner. Der Oppositionschef solle Beweise vorlegen, wenn er sie denn habe. „Es wird dir nach dem 16. April nichts nützen“, sagte Erdogan. Die Äußerung wirft selbst Fragen auf: Droht Erdogan dem Oppositionsführer mit den neuen Vollmachten, die der Präsident im Fall einer Annahme der Verfassungsänderungen erhält? Oder war Erdogans Bemerkung ein Ausrutscher – ein Eingeständnis, dass es allein um das Referendum geht, der vereitelte Putsch aber und das Regieren mit Notstandsdekreten nur Vehikel auf dem Weg zur Erdogan-Verfassung sind?
Das Problem, das Präsident und Regierung mit der Behauptung von „kontrolliertem Putsch“haben, ist: Sie können die Behauptung nicht so einfach widerlegen. Nach wie vor ist unbeantwortet, weshalb Armee- und Geheimdienstchef die politische Spitze am Nachmittag des 15. Juli angeb- lich nicht von den Anzeichen eines unmittelbar drohenden Putsches unterrichtet haben. Offen ist weiterhin, wie gleich ein Drittel der Generäle einen Umsturz vorbereitet haben sollen, von dem Präsident, Regierung und Geheimdienst Wochen oder Monate hindurch nichts bemerkt hätten.
Immer noch fehlen auch die großen Schuldbekenntnisse von Putschisten, die in den laufenden Prozessen angeben würden, tatsächlich im Auftrag des Predigers und früheren Erdogan-Verbündeten Fethullah Gülen gehandelt zu haben – die Version der Regierung, mit der sie Notstand und Massenfestnahmen begründet.
Einen dieser 45.000 Verhafteten durfte der deutsche Generalkonsul am Dienstag besuchen: Sieben Wochen nach seiner Festnahme erlaubte die türkische Regierung eine einmalige Visite des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel. Zwei Stunden traf der deutsche Konsul den Korrespondenten der Tageszeitung Die Welt im Gefängnis von Silivri, eine Autostunde weit von Istanbul. Yücel, dem Volksverhetzung vorgeworfen wird, sitzt in Einzelhaft. Es gehe ihm den schwierigen Umständen entsprechend gut, hieß es.